Bereits als Kind lernst du, persönliche Grenzen zu setzen und fremde Grenzen zu achten. Selten sind es die eigenen Grenzen, sondern die Grenzen, welche andere dir vorgeben, welche andere von dir erwarten. Einmal eine Schranke akzeptiert, fest im Kopf verankert, prägt diese dein Denken und dein Handeln. Es beeinflusst, was du für die Wirklichkeit hältst, was du aus deiner Wahrnehmung aus-grenzst.
Wie Grenzen deine Wahrnehmung steuern
Bildhaft kannst du dies in diesem kurzen Video beobachten. Jemand definiert Fremdgrenzen, unabhängig von der physikalischen Existenz übernimmt die Ameise diese fremden Begrenzung als reale Grenzen ihrer Wirklichkeit.
Du könntest zu Recht sagen, dass du mit deinen Begrenzungen gut leben kannst. Es spielt keine Rolle für dich, wer diese Schranken gesetzt hat oder weiterhin setzt. Dann lohnt es sich für dich, das Lesen dieses Artikels abzubrechen. Nutze deine Lebenszeit anderweitig.
Lohnt es sich, seine Barrieren zu kennen?
OK, du willst mehr über deine Grenzen erfahren. Hm, warum? Lese jetzt nicht einfach weiter. Ich lade dich ein, frage dich, warum willst du deine Grenzen kennen. Nein, nicht einfach weiter lesen. Wie lautet deine Antwort? Du kannst die Antwort für dich aufschreiben oder als Kommentar unten anfügen – doch gib dir selbst eine Antwort auf diese Frage. Wenn du keine Antwort darauf weist, empfehle ich dir, deine Lebenszeit anderweitig zu nutzen und nicht weiterzulesen.
OK, du scheinst eine Antwort für dich formuliert zu haben und weißt, warum du deine Grenzen kennen willst. Hier meine Antworten:
Leben bedeutet Entwicklung, Entwicklung bedeutet für mich, meine Grenzen zu überschreiten. Solange ich meine Grenzen nicht kenne, laufe ich Gefahr, in meiner Komfortzone im Kopfkino zu verharren.
Darüber hinaus möchte ich mein Leben nicht in den Grenzen anderer leben. Carl Gustav Jung dazu:
»Es tut dir gut, deine Grenzen zu kennen. Tust du es nicht, so läufst du in den künstlichen Schranken deiner Einbildung und der Erwartung deiner Mitmenschen. Dein Leben aber erträgt es schlecht, von künstlichen Schranken aufgehalten zu werden.«
Alles innerhalb meiner Grenzen kenne ich, das Neue wartet außerhalb meiner Grenzen auf mich.
Der Wert von Grenzen
Grenzen übernehmen im Leben eine bedeutsame Funktion. Sie schützen, sie geben Orientierung, sie vermitteln Sicherheit, sie signalisieren Vorhersehbarkeit, sie erleichtern mein Leben. Gleichzeitig können Grenzen mich be-grenzen, mit den Blick ver-sperren, mich ein-engen, meinem Leben seine Lebendigkeit nehmen, mir die Luft zum Atmen rauben, meine persönliche Entfaltung verhindern.
An sich sind Grenzen weder gut noch schlecht. Es kommt darauf an, wie bewusst du dir Grenzen bist. Wenn du
- deine Grenzen kennst,
- du weißt, woher diese stammen,
- welchen Nutzen sie dir stiften,
- warum sie dir heute noch unentbehrlich sind,
kannst du frei über deren Fortbestand entscheiden.
Wenn du einmal gesetzten Grenzen hinterherläufst, verlierst du mit den Jahren deine Lebendigkeit und dein Leben könnte sich mit der Zeit sinnloser und leerer anfühlen. Du fühlst es, irgendetwas stimmt nicht mehr, doch du weißt nicht genau, was es ist. Vielleicht fehlt dir Verbindung zu anderen Menschen, zu deiner Arbeit, zu dir selbst. Dir fehlt wirklicher Kontakt.
Grenzen sind Orte, an denen Kontakt entsteht
Ein Grundbedürfnis des Menschen ist: Gesehen zu werden, erkannt zu werden, verstanden zu werden. Du möchtest im Leben des Anderen einen Unterschied bewirken: Einen Unterschied,
- ob du da bist oder nicht,
- ob du etwas sagst oder nicht,
- ob es dir gut geht oder nicht.
Dieser Unterschied kann klein sein. Eine Berührung, ein Lächeln, ein Nicken, eine Umarmung, ein Wort. Notfalls brichst du einen Streit vom Zaun, um gesehen zu werden. Der Mensch sehnt sich danach, gesehen zu werden.
Dieses ›gesehen werden‹ bezeichne ich als Kontakt. Du kannst es Verbindung, Verständnis nennen. Um gesehen zu werden, ›muss‹ ich mich zeigen, ist es erforderlich, dass ich ebenfalls meine Grenzen, meine Verletzlichkeit, meine Ängste offenbare.
Du
Anschaulich eine kleine Grafik. Dieser Kreis bist du. Seine äußere Linie steht für deine Grenze.
Oberflächlich
Eine oberflächliche Kommunikation läuft meist so ab. Zwei Individuen unterhalten sich, ohne wirklichen Kontakt. Jeder trägt durch höfliche, gesellschaftlich standardisierte Kommunikation dazu bei, dass „man“ sich für „nett“ hält. Die Grenzen bleiben nicht nur gewahrt, sondern ein Abstand sichert diese zusätzlich. Zu Recht heißt es „small talk“.
Gewalt
Wenn ich die Grenze des Anderen nicht respektiere, diese übertrete, entsteht kein Kontakt. Als folge wenden beide verbale oder körperliche Gewalt an.
Erwartungen
Eine Forme von Gewalt ist die Erwartung an einen Anderen etwas zu unterlassen (negative Erwartung) oder etwas zu tun (positive Erwartung). Folgt der Andere meiner Erwartung, so verliert er seine Mitte.
Kontakt
Kontakt, wirkliche Verbindung entsteht, wenn beide Individuen sich berühren, wenn an der Grenze Begegnung stattfindet. In vollem Respekt für die Grenze des Anderen, für dessen Recht, so zu sein, wie er ist. Diese Verbindung braucht Offenheit, braucht die Bereitschaft beider, Einblick in Gefühle, Ängste, Verletzungen zu ermöglichen.
Interview
Bevor ich es vergesse, zum Kontakt gehört, dass beide sich öffnen. Tut es lediglich einer, gilt es als Interview.
Du kannst von anderen nur gesehen werden, wenn du dir deiner Grenzen bewusst bist und diese zeigst. Alles andere ist leere, oberflächliche Maskerade. Alles andere ist ein Leben ohne wirklichen Kontakt.
Wie erkenne ich meine Grenzen?
Du kennst deine persönlichen Grenzen bereits. Dein Körper stellt ein fantastisches Instrumentarium dar, um deine Grenzen zu erkennen. Du kennst deine Ängste. Du weißt um deine Verletzungen. Du erlebst dich, sobald du etwas nicht tust, obwohl es ein großer Wunsch von dir ist. Höre auf deinen Körper und erkenne deine Grenzen. Schalte die Ablenkungen aus und spüre in dich hinein.
Darüber hinaus gibt es Grenzen, die schwieriger zu erkennen sind: Die gesellschaftlichen Grenzen. Darunter fallen all die unausgesprochenen Vorgaben und Erwartungen, die du mit der Muttermilch, im Kindergarten, in der Schule, auf dem Pausenhof, in der Ausbildung, durch Nachrichten, durch Zeitschriften, durch Werbung ›so nebenbei‹ in dein Verhaltensbuch geschrieben bekommst.
Die gesellschaftlichen Grenzen erkennst du durch eine simple Frage: „Warum mache ich dies?“ oder „Warum mache ich dies nicht?“ Gebe dich nicht mit deiner ersten Antwort zufrieden, frage dich mindestens drei Mal. Findest du auf diese Fragen keine zufriedenstellende Antwort? Dann könnte es sich um eine gesellschaftliche Grenze handeln. Du kannst dies allein machen oder im Dialog mit anderen.
Der Körper hilft dir deine persönlichen Grenzen zu erkennen. Dein Kopf hilft dir, die gesellschaftlichen Grenzen zu erkennen.
Welche Grenzen soll ich errichten?
Nachdem du deine Grenzen kennst, kannst du frei entscheiden, welche du behalten oder verwerfen oder verändern möchtest.
Auf Eltern bezogen schreibt Jesper Juul:
»Die wichtigste Frage müssen alle Eltern sich selbst stellen, sie lautet: Welche Grenzen muss ich um mich selbst errichten, um mich mit mir und meinen Kindern wohl fühlen zu können? Wie grenze ich mich im Verhältnis zu ihnen so ab, dass wir Kontakt und Nähe, die wir alle wünschen, etablieren und erweitern können?«
Dieses Prinzip kannst du auf Grenzen zu deinem Partner, zu Kollegen, Freunde, Bekannte übertragen. Was brauchst du, um dich wohl zu fühlen? Du erkennst bereits, dass es nicht deinen Kopf betrifft, sondern deine Gefühle. Entscheidend sind dein Bauchgefühl, deine Stimmigkeit, deine Intuition.
Sobald ich auf meine Grenzen achte, entstehen Konflikte
Deine Grenzen kennst du, hast sie für dich bestimmt. Früher oder später (wahrscheinlich früher), kommt der Zeitpunkt, an dem jemand durch sein Handeln (oder Nicht-Handeln) deine Grenzen verletzt. Ein Konflikt entsteht.
Und Konflikte sind wertvoll, sie bedeuten Kontakt. Zuerst kannst du dich freuen, ja, freue dich. An diesem Punkt tritt das Leben in seiner Vielfalt und Einmaligkeit in dein Leben. Du erlebst tatsächlichen Kontakt. Kontakt mit dir selbst, Kontakt mit dem Anderen. Vielleicht hilft dir diese Begegnung, eine bisher unbekannte Grenze bei dir zu erkennen. So paradox es klingt, manche Grenzen erkennst du erst, sowie andere sie übertreten.
Grenzübertritte sind verbale und nonverbale Gewalt. Deine Grenze ist eine Grenze, die andere nicht überschreiten dürfen. Wenn jemand deine Grenze übertritt, dann berührt das deine Identität. Falls jemand durch seine Individualität deine Identität gefährdet, ist die Grenze seiner Freiheit erreicht.
Im Zuge dieser Grenzsicherung darfst du andere zurückweisen, die Grenze deutlich aufzeigen, dafür einstehen. Du kannst Nein sagen. Deine Gefühle haben Vorrang, sobald deine Grenze sich in Gefahr befindet. In diesem Sinne sind Grenzen Orte der persönlichen Entwicklung.
Und was ist, falls ich die Grenze anderer übertrete?
Du wirst die Grenzen anderer übertreten. Dies passiert im Vollzug des Lebens. Meist kennst du die Grenzen der Anderen nicht.
Grenzüberschreitungen sind unvermeidlich. Deine Reaktion auf eine Grenzverletzung entscheidet über die Qualität deiner Begegnung. Reagierst du mit Unverständnis über die Reaktion deines Gegenübers, antwortest du gleich mit Schuldzuweisungen („du hättest es mir sagen können …“) oder mit „jetzt bin ich eingeschnappt, weil du so reagiert hast“?
Oder atmest du ein und aus, spürst kurz in dich hinein und versuchst den Anderen in seiner Reaktion zu verstehen. Signalisierst ihm, dass es nicht deine Absicht war, diese Grenze zu überschreiten. Baust du dem Anderen eine Brücke, indem du ihn einlädst, mehr darüber zu erzählen, wie er es erlebte und was er sich in diesem Kontext von dir wünscht?
Abschlussfrage
Fällt es dir leicht oder schwer, deine Grenzen zu erkennen und deren Einhaltung einzufordern?