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Welchen Wert hat Widerspruch?

Mit Menschen zu sprechen, die gleicher Meinung sind, schmeichelt deiner Menschenseele. Es streichelt das Ego, es bestätigt deine Grundannahmen über die Welt. Du fühlst: Ich bin nicht alleine mit meiner Meinung! Ich bin richtig mit meiner Meinung! Ich erlebe Resonanz mit meiner Meinung! Ich bin sicher! Ich habe recht!

Das ist der Grund, warum wir uns gerne mit Menschen umgeben, die ähnliche Weltansichten wie wir haben. Dagegen ist nichts einzuwenden. Im Gegenteil, zu einem gewissen Teil brauchen wir dies. Es dient unserer konstruierten Sicherheit in einer sich wandelnden Welt.

Willkommen in der Filterblase

Problematisch wird es, wenn wir nur noch in einer Bestätigungswelt leben (neudeutsch social bubble). Wenn wir abweichende Meinungen, andere Weltbilder als problematisch beurteilen. Wir diese Meinungen meiden, sie im Vorhinein ablehnen und ihnen keinen Zugang mehr zu unserem Denken gewähren.

Zum Problem wird es, wenn wir dieser Bestätigungswelt einen zu großen Raum in unserem Leben geben. Dann besteht die Gefahr, dass wir abweichende Meinungen, andere Weltbilder im Vorhinein ablehnen. Ihnen den Zugang zu unserem Denken versperren.

Denken Fehlanzeige

Das Denken leidet unter dem Austausch mit Gleichgesinnten. Beim Austausch mit Menschen der gleicher Meinung, denken wir kaum noch. Wir bestätigen uns gegenseitig. Wir wiederkäuen Bekanntes.

Widerspruch, andere Weltbilder sind eine Einladung an das Denken, sich zu aktivieren. Meist lassen wir diese Chance liegen und handeln eher wie folgt:

Widerstands-Strategien

Kennen und schätzen wir den Widersprüchler, beginnen wir all unsere Geschütze aufzufahren, um ihn von SEINEM Irrtum zu überzeugen. Wir beginnen damit ihm zu beweisen, dass er falsch liegt. Entweder indem wir seine Argumente entkräften wollen oder unserer Argumente mehr und mehr ins Feld führen. Gelingt auf sachlicher Ebene kein Sieg, d. h. kein Meinungswechsel im Gegenüber, dann wechseln wir das Schlachtfeld. Es wird persönlich. Zuerst werten wir Menschen ab, die der Gegenüber zitiert oder auf die er sich bezieht. Sieht der Andere sein Fehlurteil noch nicht ein, dann werten wir ihn persönlich ab. Bleibt er hartnäckig, dann folgt der Beziehungsabbruch. Zuerst zeitweise, bei extremer Sturheit vollständig.

»Wer Kritiker als Leugner bezeichnet, will Sachfragen zu Glaubensfragen machen, um Widerspruch zur Ketzerei erklären zu können.«

Ramin Peymani

Diese letzten Phasen begleiten wir damit, dass wir das Fehlurteil des Gegenübers bei Verbündeten anprangern, um uns dort verbale, mentale Unterstützung zu holen. Wir nutzen die Gruppendynamik (https://de.wikipedia.org/wiki/Gruppendynamik) und dulden keinen Widerspruch! Nicht von Menschen, von deren Meinung wir bisher abhängig waren.

Leichter hat es der Unbekannte, der eine widersprüchliche Meinung vertritt. Auf ihn reagieren wir Abhängigkeit davon, in welcher Schublade der Unbekannte bei uns liegt (Rasse, Nationalität, Religion, politische Ausrichtung, Alter, Geschlecht, …). Am Ende werten wir bei der persönlich ab, schreiben ihm negative, persönliche Eigenschaften zu. Wir dulden keinen Widerspruch, zu denen Meinungen, die unser Weltbild (https://de.wikipedia.org/wiki/Weltbild)zementieren! Auch nicht von Unbekannten. Unser Motto: Wehret den Anfängen.

Beide Fälle sind bedauerlich, tragisch und dumm.

Es ist bedauerlich, weil wir eine Erweiterung unseres Weltbildes verhindern. Tragisch, weil wir eigene Fehlurteile länger in uns tragen müssen. Dumm, weil inneres Wachstum im Keime erstickt wird. Wir schwimmen in unserem kleinen Teich und denken, es wäre der unendliche Ozean.

»Menschen, die anders denken und bereit sind, ihre Meinung zu äußern, wenn sie nicht mit dir übereinstimmen, machen dich schlauer, fast so, als wären sie eine Erweiterung deines eigenen Gehirns. Menschen, die versuchen, ihre Kritiker zum Schweigen zu bringen oder einzuschüchtern, machen sich selbst dümmer, fast so, als ob sie Pfeile in ihr eigenes Gehirn schießen würden.«

Jonathan Haidt

Widerspruch regt an

Widerspruch zwingt zum Hinterfragen der eigenen Gedanken. Widerspruch fordert die eigene Logik heraus. Widerspruch ist eine Einladung alte Gedanken, neu zu denken.

Wer die Tugend besitzt, den Widerspruch zu lieben, ihn einzuladen, sich auf ihn zu freuen, ihn zu umarmen, dankbar für ihn zu sein, dem offenbart sich eine bunte Welt. Der gibt sich von der entweder-oder-Welt in die sowohl-als-auch-Welt.

»Ich weiß sehr wohl, wie widersprüchlich man sein muss, um wirklich konsequent zu sein.«

Pier Paolo Pasolini

Wider dem 0-1-Denken

Er überwindet die schulische richtig-oder-falsch-Logik. 0 ODER 1. Er erkennt, dass Wahrheit die Erfindung eines Lügners ist (siehe Heinz von Förster und Bernhard Pörksen https://www.carl-auer.de/wahrheit-ist-die-erfindung-eines-lugners). Er versteht, dass Wahrheit subjektiv ist. Er erlebt, wie bereichernd und erleichternd es sein kann, fremde Wahrheiten zu erfahren – ohne in den Widerstand zu gehen. Er bekommt einen ersten Eindruck, was es bedeutet als Mensch einem Mitmenschen zu begegnen.

Wer andere Menschen annimmt, wie sie sind – kann viel Freude mit ihnen erleben. Wer andere umformen will, wie es seinen Erwartungen entspricht, wird Leid erschaffen.

»Ich schreibe anders als ich rede, ich rede anders als ich denke, ich denke anders als ich denken soll und so geht es weiter, bis ins tiefste Dunkel.«

Franz Kafka

Unendliche Welten warten

Wer Widerspruch als Einladung in eine andere Welt ansieht, dem eröffnen sich unendliche Welten. Er braucht Mut, seinen Selbstwert (https://de.wikipedia.org/wiki/Selbstwert) nicht von seiner Denkwelt abhängig zu machen. Und beim Gegenüber dies ebenfalls zu unterlassen.

Abschlussfrage:

Wie reagierst du auf Widerspruch?