Jeder von uns spielt sie: Die sozialen Spiele unserer Kultur. Kultur besteht in diesem Sinne aus sozialen Spielen. Deshalb stellen ich dir fünf Fragen:
- Welche sozialen Spiele spielst du?
- Bist du dir bewusst, welche sozialen Spiele du spielst?
- Weisst du, welchen Nutzen und Schaden du daraus ziehst?
- Wenn du dir darüber bewusst bist, willst du diese sozialen Spiele weiterhin spielen?
- Falls nicht, was wären alternative soziale Spiele für dich?
Hermann Hesse beschreibt ein soziales Spiel, das wir in der Eisenbahn spielen:
»Sitze in der Eisenbahn und beachte zwei junge Herren, die einander begrüßen, weil der Zufall sie für eine Stunde zu Nachbarn gemacht hat. Ihre Begrüßung ist unendlich merkwürdig, ist beinahe ein Trauerspiel. Aus Urfernen der Fremde, Kälte, aus einsamen vereisten Polen her scheinen diese harmlosen Leute einander zu begrüßen – ich denke natürlich nicht an Malaien oder Chinesen, sondern an moderne Europäer -, sie scheinen jeder für sich in einer Festung von Stolz, gefährdetem Stolz, von Argwohn und Kühle zu wohnen. Was sie reden, ist vollkommener Unsinn, wenn man es äußerlich betrachtet, ist verkalkte Hieroglyphe aus der seelenlosen Welt, der wir beständig entwachsen und deren durch brochene Eisränder beständig an uns hangen. Selten, über aus selten sind die Menschen, deren Seele auch schon im täglichen Reden sich äußert. Sie sind schon mehr als Dichter, sind fast schon Heilige. Wohl hat auch das »Volk« Seele, der Malaie und Neger, und zeigt in Gruß und Anrede mehr Seele als der Durchschnittsmann bei uns. Aber seine Seele ist nicht die, die wir suchen und wollen, obwohl auch sie uns lieb und nah verwandt ist. Die Seele des Primitiven, der noch keine Entfremdung, keine Mühsal einer entgötterten und mechanisierten Welt kennt, ist eine kollektive, schlichte, kindliche Seele, etwas Schönes und Liebliches, aber nicht unser Ziel. Unsere beiden jungen Europäer im Bahnwagen sind schon weiter. Sie zeigen wenig Seele oder gar keine, sie scheinen ganz aus organisiertem Wollen, aus Verstand, Absicht, Plan zu bestehen. Sie haben ihre Seele verloren in der Welt des Geldes, der Maschinen, des Mißtrauens. Sie sollen sie wieder finden, und sie werden krank werden und leiden, wenn sie die Aufgabe versäumen. Aber was sie dann haben werden, wird nicht die verlorene Kinderseele mehr sein, sondern eine weit feinere, weit persönlichere, weit freiere und verantwortungsfähigere. Nicht zum Kinde, zum Primitiven zurück sollen wir, sondern weiter, vorwärts, zu Persönlichkeit, Verantwortlichkeit, Freiheit.
Hermann Hesse
Von diesen Zielen und ihrer Ahnung ist hier noch nichts zu spüren. Die zwei jungen Männer sind weder primitiv, noch sind sie Heilige. Sie sprechen die Sprache des Alltags, eine Sprache, die zu den Zielen der Seele so wenig paßt wie eine Gorillahaut, die wir aber nur langsam und in hundert tausenden Versuchen abstreifen können.
Diese urweltliche, rohe, stammelnde Sprache lautet etwa so:
»Morgen«, sagt der eine.
»Tag«, sagt der andere.
»Gestatten?« der eine.
»Bitte«, der andere.
Damit ist gesagt, was gesagt werden mußte. Bedeutung haben die Worte nicht, sie sind reine Schmuckformen des primitiven Menschen, ihr Zweck und Wert ist derselbe wie der des Ringes, den sich ein Neger durch die Nase zieht.
Äußerst seltsam aber ist der Ton, in dem die rituellen Worte gesprochen werden. Es sind Höflichkeitsworte. Ihr Ton aber ist sonderbar kurz, knapp, sparsam, kühl, um nicht zu sagen böse. Es ist kein Grund zu Streitigkeiten da, im Gegenteil, und keiner von den beiden denkt Böses. Aber Miene und Ton sind kühl, sind gemessen, schroff, fast wie gekränkt. Der Blonde zieht bei seinem »Bitte« die Brauen hoch mit einem Ausdruck, der an Verachtung grenzt. Er empfindet nicht so. Er übt eine Formel aus, die in Jahrzehnten eines seelenlosen Verkehrs zwischen Menschen sich als Schutzform ausgebildet hat. Er meint sein Innerstes, seine Seele, verbergen zu müssen; er weiß nicht, daß sie nur im Aufzeigen und Hingeben gedeiht. Er ist stolz, er ist eine Persönlichkeit, kein naiver Wilder mehr. Aber sein Stolz ist jammervoll unsicher, er muß sich verschanzen, muß Wälle von Abwehr und Kälte um sich ziehen. Dieser Stolz wäre vernichtet, wenn man ihm ein Lächeln abgewänne. Und diese ganze Kälte, dieser ganze böse, nervöse, stolze und dabei unsichere Ton des Verkehrs zwischen »Gebildeten« zeigt Krankheit an, notwendige und darum hoffnungsvolle Krankheit der Seele, die sich gegen Vergewaltigung nicht anders zu wehren weiß als durch solche Zeichen. Wie ist diese Seele scheu, wie ist sie schwach, wie jung und wenig anerkannt fühlt sie sich auf Erden! Wie verbirgt sie sich, wie hat sie Angst!
Wenn jetzt einer von den beiden Herren das täte, was er eigentlich will und fühlt, so böte er dem andern die Hand hin oder streichelte seine Schulter und würde etwa sagen: »Lieber Gott, ist das ein schöner Morgen, alles wie Gold, und ich habe Ferien ! Gelt, meine neue Krawatte ist fein? ! Du, ich habe Äpfel im Koffer, willst du einen?«
Wenn er wirklich so spräche, so würde der andere etwas ungemein Freudiges und Rührendes fühlen, etwas von Lachen und etwas von Schluchzen. Denn er würde genau spüren, daß hier die Seele des andern sprach, daß es nicht auf die Äpfel und nicht auf die Krawatte und überhaupt auf nichts anderes ankommt als darauf, daß hier ein Durchbruch stattgefunden hat, daß etwas ans Licht gekommen ist, was dahin gehört und was wir alle auf Grund einer Vereinbarung zurückhalten – ach, auf Grund einer Vereinbarung, deren Zwang noch gilt und deren einstigen Zusammenbruch wir doch schon fühlen!
Also er würde so empfinden, aber er würde das nicht äußern. Er würde zu einem mechanischen Schutzmittel greifen, einen sinnlosen Redebrocken hinwerfen, eines unserer tausend Ersatzworte. Er würde ein wenig meckern und sagen: »Ja . . . häm . . . sehr schön«, oder etwas dergleichen, und würde wegblicken mit einer Kopfbewegung voll beleidigter und gefolterter Geduld. Er würde mit seiner Uhrkette spielen, durch das Fenster starren und durch zwanzig solcher Hieroglyphen zum Ausdruck bringen, daß er seine innere Freude keineswegs zu äußern gesonnen sei, daß er nichts zeigen, nichts zugestehen könne als höchstens ein gewisses Mitleid mit diesem zudringlichen Herrn.
Indessen, dies alles geschieht nicht. Der Dunkle hat tatsächlich Äpfel im Koffer und hat tatsächlich eine riesige Bubenfreude über den schönen Tag und seine Ferien, über seine Krawatte und die gelben Schuhe. Aber wenn der Blonde jetzt beginnen würde: »Üble Sache das mit der Valuta«, dann wird der Dunkle nicht tun, wie seine Seele will, er wird nicht rufen: »Ach was, lassen Sie uns vergnügt sein, was geht uns jetzt die Valuta an! « sondern er wird mit sorgenvollem Gesicht und einem Seufzer sagen : ,.Tja, es ist scheußlich!«
Es ist wunderbar zu sehen : diese beiden Herren haben (wie wir alle) scheinbar gar keine Mühe, sich so zu benehmen, sich so ungeheuern Zwang anzutun. Sie können mit lachendem Herzen seufzen, mit mitteilungsbedürftiger Seele Kälte und Abwehr heucheln.
Aber du beobachtest weiter. Ist die Seele nicht in den Worten, nicht in den Mienen, nicht im Ton der Stimme, irgendwo wird sie doch sein.«
Alan Watts erklärt die sozialen Spiele in diesem kurzen Video
Die Pünktlichkeit
In anschaulichen Beispielen erklärt er die Zusammenhänge von Pünktlichkeit und Angst und Starrheit. Diese Starrheit und Angst führt zum Festhalten an den Dingen. Er nennt es einen Fetisch.
Doch diese Pünktlichkeit ist zentral für unsere Kultur. Das Geschäftsleben scheint zusammenzubrechen, wenn die Pünktlichkeit nachlässt. Vor allem in Deutschland ist es beinahe eine persönliche Beleidigung und ein deutliches Zeichen von individueller Inkompetenz, wenn jemand unpünktlich ist.
Basis dieser Pünktlichkeitsfixierung ist eine ausgeprägte Ich-Sicht und ein „objektives“ Bewusstsein. Dieser Mensch vergisst das eingebettet sein in ein größeres Wir und betrachtet seine Umwelt als Objekte, die zu funktionieren haben (wie er selbst auch). So arbeitet er meist bis zum Burn-Out, Herzinfarkt oder Schlaganfall.
Die Suche nach Sicherheit, nach Kontrolle, in diesem Fall Kontrolle über die Zeit, ist fatal.
Das Sicherheits-Suchen
Dieses Festhalten, dieses Sicherheit-Suchen führt zu viele Autounfällen und unglücklichen Familien. Das Festhalten an Bildern, die wir zu erreichen trachten, denen wir entsprechend wollen, doch diese Bilder widersprechen dem natürlichen Lebensfluss, der nicht planbar ist und Pünktlichkeit nicht kennt. Sondern alles braucht seine individuelle Zeit.
Dieses Sicherheits-Suchen ist eine kleine Todesangst, die sich an das Leben und seine aktuelle Form klammert, so wie „es“ sein sollte. Getreu dem Motto: Wenn ich das Leben beherrsche, dann kann ich nicht sterben.
Das Gegenteil wäre die Anerkennung, dass das Leben ein Werden und Vergehen, ein Aus-Gehen und Heim-Kommen, eine Eins-Werdung (Ent-Grenzung) und Trennung bedeutet. Gerade in dem Bewusstsein, dass alles Lebendige im ständigen Wandel ist, nicht planbar ist, liegt der Zauber allen Seins.
Das Beispiel dafür ist der menschliche Atem. Ein Kommen und Gehen, kein Festhalten, kein Starr-Sein bekommt dem menschlichen Atem gut, sondern ein Fliessen-Lassen, ein sich Fallen-Lassen. Genau so verhält es sich mit dem Leben.
Nur eine Facette: Die Pünktlichkeit
Die Pünktlichkeit ist nur eine Facette dieses Sicherheit-Suchens, um Angst nicht wahrnehmen zu müssen. Eine andere Facette ist die Verantwortung, der wir gerecht werden wollen (wieder eine Erwartung an uns selbst). Oder die Vereinbarung, die wir getroffen haben.
Nichts gegen Pünktlichkeit, Verantwortung oder Vereinbarungen. Doch sobald diese sklavische Züge annehmen, wir darauf fixiert sind und Unterbrechungen, unvorhergesehene Vorfälle oder Störungen als Kriegserklärung wahrnehmen, zu diesem Zeitpunkt schaden sie uns. Wer sich von seiner Familie nicht verabschiedet, weil er keine Zeit hat, handelt sklavisch. Wer einem Mitmenschen in Not nicht zuhört, weil er einen Termin hat, handelt sklavisch.
Die Alternative
Die Alternative ist ein Einlassen auf die Unberechenbarkeit des Lebens. Es ist eine spielerische Art und Weise auf das Leben zu reagieren. Das Verlassen von vorgefertigten Bilder, denen wir entsprechen wollen. Die Offenheit für Spaß, Freude und Witz in unserem Leben. Das Loslassen von den sozial vorgegebenen Bildern, denen wir zu entsprechen trachten.
Um dies tun zu können, ist es wichtig in überraschenden Situationen lebendig zu bleiben, im Moment zu sein (und nicht aus der eigenen Vergangenheit zu reagieren). Spielerisch zu bleiben, sein inneres Lachen zu behalten.
»Zwischen Reiz und Reaktion
Rumi (Dschalal al-Din al-Rumi, persischer Mystiker 1207-1273)
gibt es einen Raum:
Nur dort kann Begegnung stattfinden.
Zwischen Reiz und Reaktion
gibt es einen Raum:
Nur dort findet Heilung und Entwicklung statt.
Zwischen richtig und falsch
gibt es einen Ort:
Dort werden wir uns begegnen.«
Innere Freiheit
Im deutschen nennen wir es innere Freiheit. In diesem Sinne ist es die Freiheit, innere Muster zu erkennen und zu durchbrechen. Diese inneren Muster weißt der Lebenspartner meist besser, als man selbst. Es braucht viel Reflexion, um seine inneren Muster zu vergegenwärtigen und eine fortlaufende Praxis, seine innere Freiheit zu erweitern.
Es gibt keine Fehler
Vor allem die Verabschiedung von dem Gedanken, dass es Fehler gibt, ist für Alan Watts zentral. Er nennt es ein soziales Spiel, dass wir früh im Leben beigebracht bekommen. Das Spiel lautet: „Du musst das Richtige tun! Fehler gilt es zu vermeiden und wenn doch, ganz schnell daraus zu lernen.“
Alan Watts sagt: Es gibt keine Fehler, es gibt kein Richtig, es gibt kein Falsch. Das Denken an Fehler, hindert uns daran, Erwachsen zu werden. Dahinter liegt die Vorstellung, dass es bessere und schlechtere Menschen, Handlungen oder Dinge gibt. Doch nichts auf der Welt ist besser oder schlechter. Alles ist eine Form des Lebens.
Alan Watts dazu:
Alan Watts
»A chicken is one egg’s way of becoming others.«
(eigene Übersetzung: Ein Huhn ist die Art und Weise, wie aus einem Ei ein anderes wird.)
Du kannst keine Fehler machen, weil es Fehler nicht gibt. Manche nennen dies Zen-Geist.
Abschlussfragen
Welche sozialen Spiele spielst Du? Tun sie dir und deinem Umfeld gut? Fördern sie das Wahre, Schöne und Gute im Leben?