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Was hältst du fest?

Das Leben an sich ist unsicher. Du wirst geboren, du weißt nicht warum. Du wirst sterben, du weißt nicht wann. Deine Geburt kannst du nicht beeinflussen. Deinen Tod kannst du vorziehen, aber du kannst ihn nicht vermeiden. Zwischen Geburt und Tod lebst du. In ständiger Unsicherheit, auf der Suche nach deinem Sinn. Du suchst Sicherheit.

Sicherheit ist eine Täuschungg

Eine Möglichkeit Sicherheit zu erlangen, ist sich an etwas zu klammern.

Du klammerst dich an

  • Menschen: Familie, Freunde, Kinder, Kollegen
  • Dinge: Autos, Häuser, Möbel, Smartphones, Geld
  • Ideen: Religion, Konzepte, Glauben
  • Welt: Du betrachtest die Welt als statisch, Veränderungen dürfen nicht statt finden!

Woran hältst du fest?

In einer ausgeprägten Form ist es ein Festhalten.

  • Ein Festhalten an Menschen – wir geben uns selbst, unsere Bedürfnisse auf, um diese Menschen zu halten, an uns zu binden.
  • Ein Festhalten an Dingen – wir vergeuden unsere Lebenszeit, um diese Dinge erwerben, erhalten und vorzeigen zu können.
  • Ein Festhalten an Ideen – dogmatisch verteidigen wir unsere Ideen, als ob die Welt aufhört zu existieren, wenn diese Ideen in Frage gestellt werden.
  • Ein Festhalten an der Welt – jede Veränderung, jede Andersartigkeit lehnst aus tiefstem Herzen ab, du bekämpfst sie, sofort und unerbitterlich. Im Glauben, du seist im Recht.

Du suchst Sicherheit im Außen. Deine Hoffnung ist, dass es etwas außerhalb von dir gibt, was dir Sicherheit gibt. Genauer gesagt, was dir Sicherheit ›vortäuscht‹.

Die schlechte Nachricht

Die schlechte Nachricht: Es gibt keine Sicherheit. Alles ist Veränderung. Der Fluss des Lebens fließt immerfort. Wer sich aus dem Fluss des Lebens in die Sicherheit flüchtet, verliert die Verbindung zum Leben an sich. Er fühlt sich noch unsicherer, noch einsamer, noch getrennter. Er hat das Lebendige von sich abgetrennt. Ein Teufelskreis beginnt, weil nun der Wunsch nach noch mehr Sicherheit da ist, und dieser Wunsch trennt ihn noch mehr dem Leben an sich usw.

Die gute Nachricht

Die gute Nachricht: Alles in deinem Leben ist einzigartig, vergänglich und wartet auf dich. Wer sich auf das Leben einlässt, wer den Fluss des Lebens besteigt – wohlwissend, dass nichts ewig währt, der erfährt Freude und Glück in allen Dingen. Er ist verbunden mit dem Sein, mit seinem Leben und er hält nicht mehr fest.

Ein Los-lassen, indem er an den Menschen, Dingen, Ideen und der Welt nicht mehr festhält. Ein Zu-lassen, indem er Menschen, Dingen, Ideen und die Welt zu-lässt, sich diesen wirklich öffnet. Ein Ein-lassen auf Menschen, Dinge, Ideen und Welt, im Sinne einer Offenheit, ohne Wertungen, ohne Denk-Scheu-Klappen – und dabei seine eigene Mitte zu achten und neugierig bleiben, ohne anzuhaften.

Hermann Hesse’s Antwort

Hermann Hesse hat all dies so wundervoll in diese Zeilen gepackt

»Dass das Schöne und Berückende
Nur ein Hauch und Schauer sei,
Dass das Köstliche, Entzückende,
Holde ohne Dauer sei:
Wolke, Blume, Seifenblase,
Feuerwerk und Kinderlachen,
Frauenblick im Spiegelglase
Und viel andre wunderbare Sachen,
Dass sie, kaum entdeckt, vergehen,
Nur von Augenblickes Dauer,
Nur ein Duft und Windeswehen,
Ach, wir wissen es mit Trauer.

Und das Dauerhafte, Starre
ist uns nicht so innig teuer:
Edelstein mit kühlem Feuer
Glänzendschwere Goldesbarre;
Selbst die Sterne, nicht zu zählen,
Bleiben fern und fremd, sie gleichen
Uns Vergänglichen nicht, erreichen
Nicht das Innerste der Seelen.

Nein, es scheint das innigst Schöne,
Liebenswerte dem Verderben
Zugeneigt, stets nah am Sterben,
Und das Köstlichste: die Töne
Der Musik, die im Entstehen
Schon enteilen, schon vergehen,
Sind nur Wehen, Ströme, Jagen
Und umweht von leiser Trauer,
Denn auch nicht auf Herzschlags Dauer
Lassen sie sich halten, bannen;
Ton um Ton, kaum angeschlagen,
Schwindet schon und rinnt von dannen.

So ist unser Herz dem Flüchtigen,
Ist dem Fließenden, dem Leben
Treu und brüderlich ergeben,
Nicht dem Festen, Dauertüchtigen.
Bald ermüdet uns das Bleibende,
Fels und Sternwelt und Juwelen,
Uns in ewigem Wandel treibende
Wind- und Seifenblasenseelen,
Zeitvermählte, Dauerlose,
Denen Tau am Blatt der Rose,
Denen eines Vogels Werben,
Eines Wolkenspieles Sterben,
Schneegeflimmer, Regenbogen,
Falter, schon hinweggeflogen,
Denen eines Lachens Läuten,
Das uns im Vorübergehen
Kaum gestreift, ein Fest bedeuten
Oder wehtun kann: Wir lieben,
Was uns gleich ist, und verstehen,
Was der Wind in den Sand geschrieben.«

Hermann Hesse

Loslassen konkret

Wer loslässt, wer zulässt, für den sind Menschen, Dinge, Ideen und die Welt kein Gegenstand des Handelns mehr. Sie sind keine Objekte, die es zu bearbeiten, beeinflussen oder zu verändern gilt. Es sind keine Ressourcen, für die eigene Zielerreichung, Zufriedenheit oder Lust.

Wer loslässt, wer zulässt, fliesst mit im Fluss des Lebens. Er wirkt mit, indem er die Welt sich entfalten lässt. Was ist, ist. Weil alles fließt, nimmt er nichts mehr an, sondern nimmt teil am Leben.

»Reisender, es gibt keine Wege, Wege entstehen im Gehen.«

Antonio Machado

Wer loslässt, wer zulässt kann warten, er überlegt wohl, was er tut, er hält inne, er geht kleine Schritte, er geht wieder ein paar Schritte zurück. Er ist ohne Grund heiter, weil ein Grund ein Festhalten wäre und ohne Festhalten alles ein Geschenk ist.

»Ich habe gelernt, auf die Hinweise, Winke und Anzeichen zu achten. Das Gewebe ist viel dichter als wir glauben, die Bezüglichkeiten viel stärker, als wir gemeinhin ahnen. Sie werden erfahrungsgemäß an den Kleinigkeiten offensichtlicher als an den so genannt großen Geschehnissen. Mich beglücken immer von neuem diese Bezüglichkeiten, die gleichsam die kleinen Glanzlichter jedes Tages sind, wo verschiedene Lebensbereiche einander berühren und wo im Kleinen und Alltäglichen das Wunder des Gefügtseins des Lebendigen aufleuchtet.«

Jean Gebser

Loslassen und zulassen bedeutet nicht, Gleichgültig gegenüber Menschen, Dingen, Ideen und der Welt zu sein. Sondern in gelassener Art und Weise darauf zu antworten. Ein Sprecher aus der eigenen Mitte, verbunden mit seinen Emotionen, Gefühlen, Gedanken – spricht der Gelassene ohne auf die soziale Erwünschtheit einzugehen. Er spricht ohne verletzen oder gefallen zu wollen. Er achtet darauf, mit wem er spricht und wählt seine Worte dementsprechend – er übt sich in der Kunst des rechten Antwortens. Er ist im diesem Sinne „eigen-sinn-ig„!

Alles ist im Fluss des Lebens

Du kannst nichts festhalten. Du kannst alles in seiner Einzigartigkeit und seiner Vergänglichkeit erkennen, leben. Alles, was auf dich einwirkt, wird ein Teil von dir, es verwandelt dich.

In einem Satz:

»Nothing is created, nothing is destroyed, everything is in transformation.«

Thich Nhat Hanh

Was das Leben dir bringt

Doch wie lässt du los? Was kannst du konkret dafür tun, was tust du nicht mehr? Diese Frage beschäftigte bereits Lǎozǐ. Im Dàodéjīng schrieb er im Kapitel 59 (eigene Übersetzung nach Mitchell).

»Großzügig wie der Himmel,
alles durchflutend wie das Sonnenlicht,
zuverlässig wie ein Fels in der Brandung,
biegsam wie ein Baum im Wind,
hat er kein Ziel vor Augen
und macht von allem Gebrauch,
was das Leben ihm bringt.«

Lǎozǐ

Abschlussfragen

Was hältst du noch fest, was du loslassen möchtest? Wie bist du erstarrt, wo du biegsam sein möchtest? Wo möchtest du mehr zulassen? Worauf willst du dich einlassen, ohne anzuhaften?