Wahrscheinlich hält sich jeder für vertrauenswürdig. Viele glauben, man wäre vertrauensvoll, andere könnten einem ohne Bedenken vertrauen. Das eigene Vertrauen in andere Menschen ist weniger ausgeprägt. „Vertrauen muss man sich erarbeiten“, so ein Sprichwort. Wie hältst du es mit Vertrauen: Schenkst du es ohne Bedingung oder gibst du es nur, wenn es jemand ›verdient‹ hat?
Quintessenz
- Vertrauen braucht Unsicherheit, Intransparenz, Nicht-Wissen
- da das Leben unsicher ist, braucht es Vertrauen zum Über-Leben
- es gibt viele externe Angebote, die dir dazu Pseudo-Lösungen anbieten
- Kultur ist ein Weg zur Vertrauensbildung
- Vertrauen erschafft Möglichkeitsräume, Sicherheit erzeugt Langeweile
- Vertrauen braucht wirkliche Begegnung mit anderen Menschen
- Vertrauen in dich selbst, obwohl du dir deiner so vieles nicht bewusst bist, ist ein guter Anfang
- Vertrauen in die Welt schenkt dir Energie zum Leben
Vertrauen bedeutet
- unsicher zu sein, wenn du sicher wärst, bräuchtest du nicht vertrauen. Vertrauen setzt dort ein, wo die Unsicherheit beginnt, wo die Gewissheit schwindet.
- das Gegenteil von Transparenz. Wo alles transparent ist, brauche ich nicht mehr Vertrauen.
- es nicht klar zu kommunizieren. Wer vertraut, spricht dieses Vertrauen selten klar und direkt aus.
- Beziehungen zu definieren. Wem du viel vertraust, der ist dir Nahe und umgekehrt.
- Angst zu haben. Angst durch die Gewissheit, dass Vertrauen enttäuscht werden kann und darf.
- Mut zu haben, trotzdem zu vertrauen.
Leben ist Veränderung
Nichts ist sicher, alles ist im Fluss. Unbewusst oder bewusst versuchen wir diese Unsicherheit mit Glaubenssätzen, Erwartungen, Annahmen zu reduzieren – mehr oder weniger erfolgreich. Gleichzeitig braucht das Leben Vertrauen. Wie können wir vertrauen, trotz dieser Unsicherheit?
Viele bieten Pseudo-Lösungen an
Es gibt viele Konzepte, Religionen, Gemeinschaften, die sich speziell aus diesem Grund gebildet haben: die Reduzierung der Unsicherheit deines Lebens. Doch es ist die grundlegende Eigenschaft des Lebens, dass es nicht beständig und voller Veränderung ist. Unser Versuch das Leben festzuhalten ist allzu menschlich. Versicherungen sind ein gutes Sinnbild dafür. Damit wollen wir die Unsicherheiten reduzieren, wenn etwas passiert, dann bin ich wenigstens versichert.
Religionen bieten eine andere Art von Pseudo-Sicherheit an. Sie lösen die Frage nach dem Warum, nach dem Sinn. Sie erklären dir ihre Welt. Wenn du an diese Welt glaubst, bekommst du Antworten auf deine Fragen und Menschen, die an die gleichen Antworten glauben. Da die meisten Fragen zu Lebzeiten nicht beantwortet werden können, sind diese Antworten über die Zeit stabil. Im Ergebnis schaltest du dein Denken für einen Teilbereich aus.
Kultur reduziert Unsicherheit
Jede Kultur reduziert durch ihre Normen, Werte, Regeln und Erwartungen die Komplexität in der Welt. Aus der fast unendlichen Vielfalt der Möglichkeiten ermöglicht eine Kultur die Auswahl einer weniger Möglichkeiten. Deren Anwendung verspricht dem Akteur Sicherheit. Motto: Wenn du dich in unserer Kultur so und so verhält, dann bist du einer von uns.
Peter Kruse bringt es auf den Punkt:
»Kultur bedeutet die Reduktion von Komplexität und Unsicherheit.«
— Peter Kruse
Vertrauen braucht Unsicherheit
Alternativ zur Abgabe deiner Verantwortung kannst du lernen mit Unsicherheit zu leben, sie als Bestandteil des Lebens anzusehen. Ja, sogar als wichtige Voraussetzung für dein Leben. Ohne Unsicherheit verliert der Augenblick seinen Sinn und Wert.
In einem Artikel von brandeins 07/11 sagt Byung-Chul Han wundervoll klare Worte:
»Vertrauen ist ein Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen. Es ermöglicht eine Handlung trotz Nichtwissens.«
— Byung-Chul Han
Wissenschaftlicher ausgedrückt nach Niklas Luhmann:
»Vertrauen ist ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität.«
— Niklas Luhman
Mir gefällt „Handlung trotz Nichtwissens“ deutlich besser 🙂
Vertrauen schafft Möglichkeitsräume
Wie wäre es für dich, wenn dein Leben bereits geschreiben wäre. Jeder Tag deines Lebens, jede Handlung fest geschrieben. Du könntest heute lesen, was du morgen, zu welcher Uhrzeit wo tust. Du könntest vor jeder Entscheidung nachlesen, wie du dich entscheiden würdest. Du könntest alle Fragen dein Leben betreffend beantworten!
Du verlierst die Unsicherheit oder ein anderes Wort dafür: deinen Möglichkeitsraum. Es gibt keine Möglichkeiten in deinem Leben, es gibt Gewissheiten. Deine Träume sind tod. Es gibt das geschriebene Wort, deine Realität. Du brauchst kein Vertrauen mehr, du hast Gewissheit. Wird deine Frau dich betrügen? Lies nach. Wirst du an einer schweren Krankheit sterben? Lies nach. Wirst du Kinder bekommen? Lies nach?
Vertrauen braucht Alternativen
Vertrauen kann es nur dort geben, wo etwas unsicher ist. Vertrauen braucht Wahlmöglichkeit, braucht Alternativen.
Diese Alternativen realisieren sich im Augenblick. Damit gibt die Unsicherheit dem Augenblick seinen wahren Wert. Wir wissen nie wie lange er dauert. Nimm den Augenblick an. Erkenne seine Einzigartigkeit. Seinen Bezug zu dir selbst, zu deinem Möglichkeitsraum.
Simone de Beauvoir beschreibt in ‚Alle Menschen sind sterblich‘ wundervoll, was passiert, wenn der Augenblick an Wert verliert. Christian Morgenstern hat auch ein Rezept für den Umgang mit Unsicherheit:
»Alles fügt sich, alles schickt sich
— Christian Morgenstern
musst es nur erwarten können
und dem Wachsen deiner Wünsche
Zeit und reichlich Bilder gönnen.
Bis du eines fernen Tages
jenen reifen Duft der Körner spürst
und dich aufmachst
und die Ernte in die tiefen Speicher führst.«
Vertrauen braucht Begegnung
Wir reden viel über das Fernsehen, über Stars, über Belanglosigkeiten. Wir reden selten über Vertrauen, selten über Gefühle und Bedürfnisse. Gleichzeitig sehnen sich viele nach wirklichen Begegnungen, weg von der Oberflächlichkeit im Alltag.
Ralf berichtet in unseren letzten Runde von folgenden drei Fragen.
- Wie fühle ich mich?
- Was fühle ich in dir?
- Was fühle ich zwischen uns?
Diese drei Fragen beleben eine Begegnung. Sie lenkt das Gespräch auf Gefühle, auf Dinge die uns verbinden. Sie reduzieren Unsicherheit (was denkt der andere über mich? wie sieht er mich? wie sieht er unsere Beziehung? …). Sie erhöhen Vertrauen.
In diesem Prozess können folgende Worte hilfreich sein:
»Die Kunst besteht darin zu fühlen, wann man etwas Organischem vertrauen kann, und wann etwas von dem Prozeß abgeschnitten ist und unsere Beachtung verlangt. Wenn etwas sich organisch entwickelt, ergibt sich die nächste richtige Handlung unvermeidlich von selbst, und genauso der richtige Handlungsrhythmus.«
— Ron Kurtz Johanson
Vertrauen in dich selbst
Die bisherigen Gedanken betrachten Vertrauen in einem Beziehungskontext. Doch Vertrauen in sich selbst, in seine eigene Person, ist ebenso wichtig. Aus seiner Mitte heraus fühlen, denken und handeln. Anzunehmen was ist (und es ist nicht alles so, wie wir es uns wünschen), sich vertrauen, damit umgehen zu können, zu lernen. Weniger vergleichen, bewerten, urteilen, loben, tadeln.
Vertrauen in dich zu haben, in die Seiten, die du an dir magst, und auch in die Seiten, die du nicht magst (du nennst sie vielleicht: Schwächen, Fehler, Makel, …).
Vertrauen in dich zu haben, unabhängig von dem was du Besitzt oder gern besitzen möchtest (in Wahrheit bestitz nicht du die Dinge, sondern die Dinge besitzen dich).
Vertrauen in sich selbst, seine Handlungsfähigkeit, seinen Wesenskern (ohne ihn genau zu kennen). Ein schöner Gedanke – und er ist es Wert sich ihn immer wieder ins Bewusstsein zu rufen. Chögyam Trungpa schreibt:
»Vertrauen zu besitzen bedeutet nicht, Vertrauen in eine Sache zu haben, sondern in einem vertrauensvollen Zustand zu verharren, der frei ist von Konkurrenzdenken und vom Ehrgeiz, andere zu übertreffen. Es handelt sich um einen bedingungslosen Zustand, in dem Du einfach nur über einen unerschütterlichen Geist verfügst, einen Geist, der gänzlich ohne Referenzpunkte auskommt.«
—Chögyam Trungpa
Vertrauen in die Welt
Neben Vertrauen in Beziehungen, Vertrauen zu sich selbst gibt es noch das Vertrauen in die Welt.
Auch die Welt ist unsicher. Das einzig sichere ist die Veränderung, die Verwandlung von allem was ist. Als Mensch darauf vertrauen, mit der Wandlung umgehen zu können, Antworten auf noch nicht gestellte Fragen zu finden, seinen Möglichkeitsraum in der Welt damit zu erschaffen und dem eigenen Leben Sinn zu geben.
Diese Gedanken entstanden auf einem Dialog Seminar.
»Entfaltung der Welt
— Thomas Rehehäuser
im Raum
im Feld
mit Grenzen
in der Zeit
voller Kraft
aus der Zartheit
und Verletzlichkeit
zum eigenen Ausdruck
ohne Angst
ohne Ziel
mit Vertrauen
in der Wandlung
mit Eigenzeit
ohne Normen
zur Entfaltung
des Möglichkeitsraumes
deiner Welt«
Sich selbst vertrauen, in Beziehungen Unsicherheit durch Gespräche reduzieren und auf deinen Möglichkeitsraum in der Welt vertrauen. Drei Wege zu mehr Vertrauen in der Welt.
Abschlussfrage
Wie gehst du mit der Unsicherheit im Leben um? Kannst du Vertrauen „trotz“ Unsicherheit?