Kein anderes Merkmal besitzt in unserer Gesellschaft so eine Macht wie die Arbeit. Alleine die Zuschreibung „Arbeitslos“ löst stereotypische Gedankenbilder in uns aus. Versager, Faul, Nichtsnutz, Schmarotzer … um nur einige Gedankenbilder zu nennen. Arbeit bestimmt unser Leben, nein, Arbeit dominiert unser Dasein. Ist das richtig?
Arbeit im Lauf der Geschichte
Die Bedeutung der Arbeit für einen Menschen in Europa kann im Kurzdurchlauf so dargestellt werden.
- Im alten Griechenland waren es Sklaven, welche gearbeitet haben, also Sklavenarbeit (die Griechen übten sich in Muße (lateinisch: otium), Philosophie, …). Arbeit (lateinisch: neg-otium) wurde damals als Minderwertig betrachtet.
- Dann kam Gott ins Spiel und Arbeit war Sühne und Strafe für den Sündenfall.
- Thomas von Aquin sah in der Arbeit die beste Form der Erziehung und Selbstzähmung (Motto: Müßiggang ist aller Laster Anfang).
- Mit Calvin & Co. und der Prädestinationslehre wurde die Arbeit (und deren Erfolg) ein Teil der Selbstbestätigung – und ob Gott es gut mit einem meinte. Wohlstand war gottgewollt!
- Irgendwann kam dann auch Hegel und meinte, dass Arbeit der Wegbereiter des Existentialismusses wäre – also Arbeit als Mittel zur Selbstbewußtwerdung und Befreiung des Menschen.
- Heute ist Arbeit der zentrale Punkt für den Selbstwert eines Menschen. Wer keine Arbeit hat, ist Arbeitslos – ihm fehlt also etwas.
- Arbeit ist auch zentral für die Definition von Krankheit. Krank ist, wer nicht mehr arbeiten kann. So ist Alkoholkonsum so lange toleriert, wie jemand noch arbeiten kann. Ist seine Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt, so ist er auf einmal Alkoholabhängig. Auch wer zuviel arbeitet ist gesund, nur wer so viel arbeitet, dass er nicht mehr arbeiten kann, der ist krank (burn out).
Die Ich-AG
Wir haben dann die Ich-AG erfunden, und sind gerade dabei die zeitliche Trennung von Arbeit und Freizeit aufzuheben. D. h. wir fangen an immer und überall zu arbeiten, wir werden immer mobiler und sind ständig verfügbar.
Aus dem Jahre 1935:
»Wie die meisten meiner Generation bin ich nach dem Sprichwort „Müßiggang ist aller Laster Anfang“ erzogen worden. Da ich ein sehr braves Kind war, glaubte ich alles, was man mir sagte; und so entwickelte sich mein Pflichtgefühl derart, daß ich zeit meines Lebens und bis zum heutigen Tage nicht umhin konnte, immer schwer zu arbeiten. Aber wenn mir auch mein Handeln vom Gewissen vorgeschrieben war, so hat sich doch in meinen Ansichten eine Revolution vollzogen. Ich glaube nämlich, daß in der Welt viel zuviel gearbeitet wird, daß die Überzeugung, Arbeiten sei an sich schon vortrefflich und eine Tugend, ungeheuren Schaden anrichtet, und daß es nottäte, den modernen Industrieländern etwas ganz anderes zu predigen, als man ihnen bisher immer gepredigt hat.«
Der Herzinfarkt und Burnout als Auszeichnung
In unserer Gesellschaft ist für bestimmte Berufsgruppen der Herzinfarkt und der Burnout eine Auszeichnung. Wer einen Burnout oder Herzinfarkt vorweisen kann, der hat bewiesen, dass er bis an seine Grenze – und darüber hinaus – bereit ist, sich für das Wohl der Firma aufzuopfern. Er hat gezeigt, dass er wirklich ALLES (auch sein Leben) geben würde.
Danach gibt es ausgiebig verbale Bekundungen, die darauf hinweisen, dass man übertrieben hat und man besser auf sich acht geben soll. Diese Bekundungen kommen von den Menschen, die einen mit entsprechenden Aufgaben und Zeitvorgaben versorgt haben.
Im besten Fall beginnt eine kurze Phase der Reflexion bei allen Beteiligten. In diese Phase fallen Aussagen wie: „Nehmen Sie sich jetzt erst mal Zeit, um wieder auf die Beine zu kommen.“ Meist wird nach ein paar Wochen indirekt und sanft mitgeteilt, dass es langsam Zeit wird, wieder der oder die Alte zu sein. Die Arbeit macht sich schließlich nicht von alleine.
Und das Spiel bis zur Erschöpfung beginnt erneut.
»Denn das Leben auf der Jagd nach Gewinn zwingt fortwährend dazu, seinen Geist bis zur Erschöpfung auszugeben, im beständigen Sich-Verstellen oder Überlisten oder Zuvorkommen: die eigentliche Tugend ist jetzt, etwas in weniger Zeit zu tun als ein anderer.«
Keine Zeit zu haben zeugt von Energie, Kraft und Erfolg
Wenn du jemanden triffst, der bei der Frage nach Zeit für ein Treffen mit: „Heute Nachmittag oder Morgen“ antwortet, dann kommt innerlich eine Frage auf. „Hast Du nichts zu tun, arbeitest du nicht?“
Antwortet jedoch einer: „Oh, schwierig, da muss ich erst mal im Kalender schauen. Aber die nächsten 8 Wochen wird es schwierig. Aber danach finden wir bestimmt ein Zeitfenster. Wir müssen uns unbedingt mal wieder treffen!“ Dann zeugt das von Tatkraft, Energie und Erfolg. Falls die Person keinen Erfolg vorweisen kann, so bezeugt sie damit doch den Willen, alles zu geben, um Erfolg zu erlangen.
Menschen, die (freie) Zeit vorweisen, die sich spontan treffen können, erregen dein Misstrauen. Zu Ende gedacht verschwenden diese Menschen ihr Leben. Was könnten sie erreichen, wenn sie sich anstrengen würden, ihre Zeit besser nutzen würden!
»Man schämt sich jetzt schon der Ruhe; das lange Nachsinnen macht beinahe Gewissensbisse. Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu Mittag ißt, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet, – man lebt wie einer, der fortwährend etwas „versäumen könnte“«
Muße und Müßiggang nur in der Rente
›Zeit haben‹ verbinden wir in unserer Kultur mit der Rentenzeit. Dort ist es erlaubt Zeit zu haben. Zeit um all die Dinge zu tun, die du die letzten 40 Jahre nicht getan hast, weil du gearbeitet hast.
Rentner haben dann soviel Zeit, dass es ein Problem wird. Was tun mit der Zeit? Wer 40 Jahre gelernt hat keine Zeit zu haben, der muss mit soviel Zeit überfordert sein. Du kannst deine jahrelangen Muster nicht mit dem Rentenbescheid ablegen, sie prägen dich.
Stell dir vor du bist noch einmal 20 Jahre alt und eine Fee kommt zu dir, sie spricht: „Du hast die Wahl: Die nächsten 20 Jahre Tag und Nacht arbeiten und danach 20 Jahre nicht mehr arbeiten müssen (du wirst allzeit genügend Geld haben) – oder die nächsten 20 Jahren nicht arbeiten müssen und danach 20 Jahre Tag und Nacht arbeiten. Was wählst du?“
Was würdest du wählen? Die Zeit zwischen 20 und 40 Jahren intensiv geniessen und danach arbeiten – oder zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen?
Eine theoretische Frage? Ja, wirklich? Oder eine Frage die sich unbemerkt in unser Leben eingeschlichen hat und die wir mit: „Zuerst 40 Jahre harte Arbeit, dann die Rente!“ (oder euphemischer: „Zuerst Karriere, dann die eigenen Früchte geniessen“!) beantworten?
Wenn ich nicht für die Arbeit leben, wofür dann?
Gehen wir zurück zu den Griechen. Für Aristoteles war die Muse ›viva contemplativa‹ oder ›bíos theōrētikós‹ das höchste Gute eines guten Lebens. Aristoteles schrieb in „Politik“ wie folgt:
»Denn die Muße, um noch einmal von ihr zu reden, ist der Angelpunkt, um den sich alles dreht. Denn wenn auch beides sein muss, so ist doch das Leben in Muße dem Leben der Arbeit vorzuziehen, und das ist die Hauptfrage, mit welcher Art Tätigkeit man die Muße auszufüllen hat. Man wird doch wohl nicht behaupten wollen, dass man sie auf eitles Spiel verwenden müsse. Dann wäre ja das Spiel der Zweck unseres Daseins. Wenn das aber unmöglich ist, und man des Spieles vielmehr bei der Arbeit pflegen soll – denn der Müde braucht Erholung, und das Spiel ist der Erholung wegen, und die Arbeit geschieht mit Mühe und Anstrengung -, nun, so folgt, dass man dem Spiele nur mit Beobachtung der rechten Zeit seiner Anwendung Raum geben darf, indem man es wie eine Medizin gebraucht. Denn eine solche Bewegung der Seele ist Ausspannung und wegen der damit verbundenen Lust Erholung. Die Muße dagegen scheint Lust, wahres Glück und seliges Leben in sich selbst zu tragen. Das ist aber nicht der Anteil derer, die arbeiten, sondern derer, die feiern. Denn wer arbeitet, arbeitet für ein Ziel, das er noch nicht erreicht hat, das wahre Glück aber ist selbst Ziel und bringt, wie allen feststeht, nicht Schmerz, sondern Lust.«
Ein Leben ohne Arbeit bedeutet ein Leben ohne Freizeit. Können wir uns so ein Leben ohne Freizeit überhaupt vorstellen?
Ein Leben für die Muse, ein Leben für ein wirkliches Miteinander, ein Leben für eine Herzensangelegenheit, ein Leben für die Kunst, ein Leben für die Philosophie. Ich höre bereits die Gedanken, die rufen: Ja, aber, wenn sich jeder seinem Hobby hingibt, wer macht dann die Arbeit? Im alten Griechenland taten dies Sklaven, deshalb konnte Aristoteles sich der Muse hingeben.
Richtig. Doch ich führe hier nicht das Wort gegen die Arbeit, ich rufe nicht zu Schwarz-Weiß-Denken auf, es gibt mehr als ein entweder-oder. Sondern ich rufe zu einem bewussten Umgang mit der eigenen Lebenzeit auf. Mit einem bewussten hinterfragen, was dir im Leben wirklich wichtig ist, wofür du deine Lebenszeit hergibst.
Nichts auf der Welt ist so gleich verteilt wie die Zeit. Wieviel Zeit bekommen die Menschen, die Dinge in deinem Leben, die dir wirklich wichtig sind, die dir am Herzen liegen? Lebst du, um zu arbeiten – oder arbeitest du, um zu leben?
Abschlussfragen
Welche Bedeutung hat die Arbeit in deinem Leben? Was wäre dein Leben ohne deine Arbeit? Was wärst du ohne Arbeit?
Kennst du das bedingungslose Grundeinkommen – was würde sich in deinem Leben ändern, wenn du dein Dasein gestalten könntest und die Grundbedürfnisse durch das Grundeinkommen abgedeckt wären?