Wir leben in einer Schein-Welt. Der Schein ist wichtiger als das Sein. Wir wollen uns verkaufen, gut verkaufen, immer. Auf dem Arbeitsmarkt, auf dem Beziehungsmarkt, auf dem Freundesmarkt, auf dem Familienmarkt. Du glaubst das nicht? Verbringst du Weihnachten bei deinen Eltern, mit Verwandten? Was macht es mit dir, wenn du mit deinen Eltern Weihnachten feiert? Bist du der/die, der du wirklich bist?
Meistens spielen wir Rollen, tragen Masken. Keiner fordert uns direkt dazu auf. Wir tun es voreilend freiwillig, wird sind gehorsam, bevor er verlangt wird. Wir geben uns so, wie wir glauben, dass andere uns haben wollen. Wir verstehen uns bis zu eigenen Unkenntlichkeit, um dazuzugehören, um Teil zu sein, um Stress aus dem Weg zu gehen, um Ärger zu vermeiden. Wir verstümmeln unser Sein, um vor andern zu Scheinen.
Wehe dem und wehret den Anfängen
Wehe dem, der diese Fassade ankratzt. Wehe dem, der seine eigene Fassade nicht aufrecht erhält. Wehe dem, der auszubrechen versucht, der diese ganze Maskerade nicht mehr mitmacht. Wehe dem, der auf einmal auf die Idee kommt, die jahrelangen Spielregeln nicht mehr zu beachten. Du wirst ihn strafen – bis zum Ausschluss aus deinem Wirkungskreis. Und es gibt sie in so vielen Familien, die Menschen, die nicht mehr Teil sein dürfen. Die Menschen, die seit Jahren keinen Kontakt mehr haben. Die Menschen, die zu lebenden Toten erklärt werden.
Familienspiele
Dafür gibt es viele Gründe. Meist spielen diese Menschen gewisse Spiele nicht mehr mit. Familienspiele sind mächtige Spiele. Sie werden von klein auf gelernt und täglich geübt. Subtil und fein dosiert über die vielen Jahre werden sie tief verankert, dass sie nur schwer zu entdecken sind. Ein neuer Partner, ein neues Umfeld, eine neue Stadt bringen sie an die eigene Wahrnehmungs-Oberfläche. Deshalb fallen sie Menschen eher auf, die sich örtlich verändern. Der Bruder, der sein ganzes Leben in der Heimatstadt bei seinen Eltern verbringt, wird dies selten erkennen.
Gemein und verletzend ist der Prozess, bis das Familienmitglied lebendig begraben wird. Er wird persönlich abgewertet. Die ganze Familie hält auf einmal gegen den Andersdenkenden zusammen. Jetzt kommt die jahrelange Erfahrung ins Spiel, die Familie glaubt, den Abtrünnigen gut zu kennen. Und alle, wirklich alle, Hebel werden eingesetzt, um ihn wieder in die Familienspielesammlung – zur Vernunft, zu bringen. Drohungen, Schweigen, alte Wunden, sensible Punkte, Liebesentzug sind nur eine kleine Auswahl des Waffenarsenals.
Nicht auf sich selbst schauen
Die Aufmerksamkeit ist ganz auf dem, der nicht mehr mitspielen will. Die eigene Position zu hinterfragen. Sich selbst zu hinterfragen. Die Familienspiele zu erkennen, darüber zu sprechen. Davon sind die Familienmitglieder sehr weit entfernt, zu sehr bindet der Andersspieler ihre Aufmerksamkeit. Er steht im Fokus, er ist falsch, er muss bekehrt werden. Wie eine Inquisition finden Telefonate und Gespräche statt, um Strategien für die Läuterung zu entwickeln. Nur einzig, der Blick zu sich selbst, scheint keine Strategie zu sein.
Linda Lemay hat diesen Blick auf das eigenen, diesen schmerzvollen Blick auf sich selbst, gerade im Abgleich zum Anderen, in diesem Lied wunderbar auf den Punkt gebracht.
Ein Ausweg, der weh tun kann
Sie zeigt einen Weg aus dem Tribunal. Diese Klarheit der Situationsbeschreibung. Dieses über sich selbst zu stellen, sich selbst als Teil des Spiels zu betrachten. Das Wunderbare im anderen zu erkennen. Weg vom eigenen Ego, Verantwortung für sein Umfeld zu übernehmen, gerade und weil, es manchmal sehr weh tut.
Durch den eigenen Schmerz die Welt zu sehen. Dieser offene Blick auf das eigene Sein, die eigenen Schwächen. Den Mitmenschen sehen, gerade dort wo er er zu sein scheint, wie ich gerne wäre. Und trotz alle dem, zu sich zu stehen, in seiner Imperfektion.
Du bist erst perfekt, wenn du unperfekt bist
Und in meiner Welt sind wir alle nicht perfekt und gerade deswegen, perfekt. Wir sind alle gefangen in unseren Gedanken, Erwartungen, Wünschen, Bedürfnissen. Voller Widersprüche, Paradoxien und Unvernunft.
Es wurde uns alle helfen, wenn wir manchmal, wie Linda Lemay, den Blick heben und unseren eigenen Denkraum verlassen und die Situation aus einer höheren Perspektive betrachten. Klar und ehrlich beschreiben was wir sehen.
Abschlussfragen
Wie wäre es Fragen im Raum zu halten, ohne die Antworten zu zementieren. Wie wäre es, abseits der täglichen Denk-Autobahnen eigene Trampelpfade zu erkunden, zu fördern. Wie wäre es, die eigene Brüchigkeit, Verzweiflung, Hilflosigkeit dem Schein vorzuziehen?