Worte sind verräterisch. Die Work-Life-Balance macht deutlich, es geht zuerst um die Arbeit, dann um dein Leben (sonst würde es Life-Work-Balance heissen). Und wer beim Wort Zeitvertreib vertrieben werden soll, ist zu allererst deine Lebenszeit. Das uns die Muse oder der Müßiggang oder die Melancholie schon lange verloren gegangen ist, zeigt sich auch darin, dass diese Wörter aus unserem Alltag verschwinden oder negativ belegt werden.
Hier ein paar Zitate von Gert Heidenreich zum Thema Zeit.
Gert Heidenreich beschreibt die Zeitwahrnehmung:
»Offenbar gibt es keine Zellen oder kein Areal in unserem Gehirn, wo die Zeit objektiv bestimmt wird. Vielmehr nehmen wir die Dauer eines messbaren Vorgangs je anders wahr, wenn wir uns während seines Verlaufs geistig mit ihm auseinandersetzen oder nicht: Je intensiver unser Denken dabei beschäftigt ist, um so länger erscheint uns der Vorgang. Je weniger er uns zu denken aufgibt, desto kürzer kommt dieselbe messbare Dauer uns vor.«
Zur Zeitrelation:
»Ein Baby, das einen Tag alt ist und sechzig Minuten auf seine Mutter warten muss, wartet dabei etwa vier Prozent seines Lebens. Schon für einen Zehnjährigen beträgt dieselbe Zeitspanne, bezogen auf sein Leben, nur noch ein Tausendstel Prozent. In der Lebensmitte spielt diese Rechnung kaum eine Rolle mehr, erst gegen Ende tritt eine neue Relation zum absehbaren Rest unserer Zeit ein.«
Er erläutert auch die Bedeutung der Wüste hinsichtlich der Zeitwahrnehmung:
»Man könnte solchen Untersuchungen zufolge annehmen, dass die Vielzahl von wechselnden Angeboten in den Straßen einer Stadt unser Denken kräftig anregt, darum die gefühlte, uns subjektiv zur Verfügung stehende Zeit verlängert – und im Gegenschluss, dass wegen der geringen Menge unterschiedlicher Eindrücke in der Wüste uns die Zeit rasch verfliegt.«
»Und doch verhält es sich zweifellos umgekehrt. Die Zeit in der Wüste kommt uns besonders lang vor, in Einsamkeit und Stille hat sie eine beruhigende Dauer: Das legt nahe, dass wir angesichts des eher kargen Angebots an landschaftlicher Variation geistig besonders rege sind. Wofür auch die bedeutsame Rolle der Wüsten für die Gründung von Religionen spricht. Die Intensität unseres Denkens in Bezug auf unser Zeitgefühl verhält sich anscheinend umgekehrt proportional zur Menge der auf uns eindringenden Sinneseindrücke.«
Und er bringt es wunderbar auf den Punkt:
»Dass uns die Zeit so schnell zu verrinnen scheint; dass wir uns oft gehetzt fühlen, deutet nach den Gehirnforschungen zu unserem Zeitempfinden darauf hin, dass wir gedanklich nicht gefordert sind, dass wir uns mit der Kette der Augenblicke nicht denkend auseinandersetzen, dass wir einigermaßen geistlos durch den Tag treiben, obwohl die Angebote zur Wahrnehmung bildlicher Eindrücke und akustischer Signale in den städtischen Kulissen und häuslichen Medienausstattungen so zahlreich sind wie nie zuvor.
Zum Denken regen sie offenbar nicht an, ja sie scheinen das Denken sogar zu verhindern, sonst müssten wir ein anderes Zeitgefühl haben, die Fülle der Signale müsste uns eine Fülle der Minuten bescheren. In Wirklichkeit aber scheint unsere Zeit knapp wie nie zu sein. Als fortschrittlich sehen wir Erfindungen an, die Zeit sparen oder zumindest vorgeben, es zu tun. Sie versprechen Freizeit oder erhöhte Effektivität und reden uns ein, Zeitverschwender zu sein. Wer sich vor solcher Propaganda nicht bewahrt, läuft Gefahr, ausschließlich in zwei Zuständen zu leben: gehetzt und erschöpft.«
Er zitiert Blaise Pascal:
»Das einzige, das uns über unser Elend hinwegtröstet, sind die Zerstreuungen. Und doch sind sie unser größtes Elend. Denn gerade sie sind das Haupthindernis, wenn wir über uns selbst nachdenken wollen. Sie stürzen uns unmerklich ins Verderben.«
Wunderbar der Hinweis auf Musil, Mann ohne Eigenschaften:
»Was ist alles, was wir tun, anderes, als eine nervöse Angst, nichts zu sein: von den Vergnügungen angefangen, die keine sind, sondern nur noch ein Lärm, ein anfeuerndes Geschnatter, um die Zeit totzuschlagen, weil eine dunkle Gewissheit mahnt, dass endlich sie uns totschlagen wird.«
Eine Verbindung der besonderen Art beschreibt François-René de Chateaubriand:
»Ein Meister in der Kunst des Lebens unterscheidet nicht zwischen seiner Arbeit und dem Spiel, seiner Arbeit und Freizeit, seinem Geist und Körper, seiner Lehre und Erholung. Er weiß nicht einmal genau was diese beide unterscheidet. Vielmehr macht er die Dinge so gut er kann und überlässt es anderen zu entscheiden, ob er nun gerade arbeitet oder spielt. Für ihn erscheint es immer, dass er beides gleichzeitig macht.«
Gert Heidenreich weist in seinem Beitrag „Immer schneller und immer schlechter“ auf die Turbogesellschaft hin. Falls er noch verfügbar ist, findest Du ihn vielleicht mit der Suche nach SWR2-Wissen und Gert Heidenreich.