Pervitin ist Vergangenheit

„Unsere Biologie und unsere Gehirne sind aber nicht nur die Gegner im Kampf gegen die schlechte Stimmung. Dort soll die schlechte Stimmung auch umweltverträglich entsorgt werden, d. h. ohne dass sie „Schaden“ anrichtet, ohne dass nämlich jemand auf den Gedanken käme, notwendige gesellschaftliche Veränderungen oder notwendige Einstellungsänderungen ins Auge zu fassen: Schlechte Stimmungen werden zu Krankheiten erklärt und damit zum individuellen Problem des Einzelnen und seiner Biologie. Unser Unbehagen und unsere Verzweiflung wird in den Synapsenspalt zwischen Neuronen verortet und soll auch genau dort bleiben und dort behandelt werden.

Doch es bleiben Fragen: Bedeutet die enorme Zunahme depressiver Zustände und mieser Stimmungen in den letzten Jahren, dass sich die Biologie unzähliger Menschen zum Schlechten hin verändert hat? Wohl kaum! So schnell ändern sich die biologischen Eigenschaften des Menschen, die menschliche Hardware, nicht. Etwas hat sich allerdings geändert, und zwar sehr nachhaltig: die sozialen, die gesellschaftlichen und politischen Zustände – und die Vorstellungen der Menschen von sich selbst und der Welt (also wenn man so will: die menschliche Software).“

Ein Interessanter Gedanke von Arnold Retzer, Psychologe, Therapeut und Buchautor aus Mannheim in dem SWR2-Podcast „Mut zur Negativität„.

Wir suchen die Ursachen für unsere Stimmungen nun in uns, was nahe liegt, denn jetzt wissen wir ja soviel über Neuronen, Botenstoffe … Doch vielleicht liegen die Ursachen auch ein wenig außerhalb von uns. Vielleicht liegen sie in der Art und Weise wie wir leben, an den Erwartungen an unsere Leistungsfähigkeit, an einer Welt, in der Du sehr viel zählst, wenn Du Deine Leistung bringst (am besten bringst Du mehr Leistung als man erwartet), in einer Welt, in der viele den Kontakt zur Natur verloren haben, aus dem eigenen Rhtythmus sind und Orientierung suchen.

Doch in einer Welt, die Krankheit danach definiert, ob Du noch leistungsfähig bist oder nicht (so wird ein oder zwei oder drei Bier am Abend gesellschaftlich toleriert, manchmal sogar gefördert; doch wenn dies dazu führt, dass Du nicht mehr arbeiten kannst, dann wirst Du als Krank definiert), in so einer Welt hilft es, wenn „man“ den Menschen mit Problemen sagen kann: Es liegt an Dir, schau Dich an, tue was, damit es Dir gut es, es liegt alleine in deiner Hand. Und welch‘ Glück, damit es ihm wieder gut geht, dafür kann er Dinge kaufen: Tabletten, Bücher usw. und so kann er wenigstens die Wirtschaft ankurbeln.

Jetzt kommt ein böser Vergleich. Den jeder Vergleich mit dem dritten Reich hat etwas böses und ist per se nicht angebracht. Ich tue es trotzdem.

Zu Beginn des zweiten Weltkrieges erhielten deutsche Soldaten Pervitin. Ein Mittel für eine erhöhte Kampf- und Leistungsbereitschaft, getreu dem Motto: Wenn schon Krieg, dann wenigstens mit guter Stimmung.

So nutzt jedes System ihre Mittel, um die Ziele des Systems zu erreichen. Deshalb sollten wir die Ursache für unsere kritische Sichtweise auf uns und auf unsere Gesellschaft nur bei uns suchen, Ratgeber Bücher kaufen, Pillen schlucken und uns fragen was wir wohl falsch gemacht haben, dass unsere Neuronen, unsere Botenstoffe nicht so funktionieren, dass wir dauerhaft glücklich, zufrieden und selig sind. Getreu dem Motto: Kauf Dich glücklich!