Die Stimmung vor den Weihnachtsfeiertagen ist anders. Geschäftiger, die Läden für Bücher, Ernährung und Geschenke aller Art sind übervoll. Überall wünschen sich die Menschen frohe, besinnliche, schöne Feiertage. Manchmal herrscht eine Freundlichkeit, die so selten in Deutschland ist. Führt Weihnachten zu einem besseren Miteinander?
Quintessenz
- Weihnachten als ein wunderbarer Möglichkeitsraum für Begegnung oder für Stress
- hohe Erwartungen werden meist nicht offen ausgesprochen
- vielerorts erinnert Weihnachten an ein Schauspiel, jeder trägt eine Maske
- Motto: Wir sind eine Familie und an Weihnachten (wenn auch nur dann) zeigen wir es
- der Höhepunkt des Schauspiels sind die Geschenke, jetzt zählt jede Mimik und Geste
- Weihnachten alleine kann keine Beziehung heilen
- was während des Jahres versäumt wurde, lässt sich an Weihnachten nicht aufholen
- Weihnachten zeigt auf, wie sehr wir unsere Kultur von Freude abgetrennt haben
Weihnachten für mehr Zweisamkeit
Die Familien treffen sich wieder, jeder wird von anderen beschenkt, „man“ ist mehr oder weniger gezwungen „nett“ zueinander. Als Zwistigkeiten werden mehr oder weniger erfolgreich „bei Seite geschoben“. Man schaut sich wieder in die Augen, sitzt an einem Tisch.
Über Gespräche und gemeinsame Erinnerungen werden Brücken gebaut. Es kann gemeinsam gelacht werden. Manche Familie singt sogar gemeinsam, etwas unglaublich Verbindendes. Weihnachten als Möglichkeitsraum sich wieder zu begegnen.
Weihnachten führt zu mehr aneinander denken
Und sei es nur, um die Frage zu beantworten, was ich schenken soll. Selbst diese Frage erfordert, die Gedanken an die geschenkte Person zu lenken. Was mag sie? Was habe ich letztes Jahr geschenkt? Wie kam es an?
Es kann zwar wieder beim Parfüm, Socken, Krawatte oder Buch-Gutschein enden, doch so lange haben manche das ganze Jahr nicht aneinander gedacht.
Weihnachten bringt alle an einen Tisch
Essen verbindet. Gemeinsames essen, ist mehr als „satt“ zu werden. Es ist eine soziale Interaktion, eine der ältesten der Menschengeschichte. Vielerorts wird das Essen gemeinsam vorbereitet. Selbst die Auswahl wird teilweise Wochen vorher in „fast“ endlosen Telefonaten abgestimmt. Essen verbindet.
Gleichzeitig liefert das Essen ausgiebig Gesprächsstoff. Sei es die Qualität oder die Menge, die Zufriedenheit der einzelnen oder die Vergleiche mit früheren Essen oder oder oder. Unendliche Anknüpfungspunkte.
Alle sitzen an einem Tisch. Die Struktur wird durch die Abfolge festgelegt. Die Tafel ist festlich gedeckt. Die feierliche Stimmung steigt und die Erwartungen sind groß.
Weihnachten und seine Vorgeschichte
Da sehen sich Menschen das ganze Jahr nicht, und plötzlich treffen alle (auf meist zu engem Raum) aufeinander. Das ganze Jahr hat es maximal (wenn überhaupt) zum Anruf oder der SMS am Geburtstag gereicht. Natürlich mit der obligatorischen Feststellung, dass „man“ sich unbedingt zeitnah sehen will – „man“ nur nicht weiß, wann dieses „zeitnah“ sein soll. Das Treffen wird höfflich, stillschweigend beiderseitig vertagt.
Dieses Treffen wird durch seine enge im Raum (viele Menschen, kleine Räume) nicht leichter. Der Christbaum nimmt dabei noch zusätzlich Platz weg und kleine Kinder sollen tunlichst nicht daran rumspielen (so wie letztes Jahr, als der Baum umfiel …)
Das viele zum Fest kommen, bei denen die letzten Tage und Wochen vor Weihnachten – wegen Weihnachten – stressig waren und sie eigentlich Ruhe und Erholung bräuchten, kommt zur individuellen Vorgeschichte dazu. Meist war die Zeit für Geschenke und Einkäufe zu kurz und das schlechte Gewissen deswegen ist unentdeckt vorhanden.
Weihnachten birgt Gefahren
Da haben wir es, viele Menschen, die sich während des Jahres kaum sehen, auf viel zu engem Raum, mit einem latent schlechten Gewissen. Gleichzeitig hohe Erwartungen, ein „schönes“ Fest für alle zu erleben. Bloß keine heiklen Themen ansprechen, damit die Stimmung nicht kippt.
Der ganze Ablauf ist oft ritualisiert, d. h. es gibt feste Abläufe, wann was zu passieren hat und wer was zu tun hat. Meist kommen diese Rituale noch aus den eigenen Kindertagen, doch aus den Kinderschuhen sind die Menschen entwachsen, aus den Ritualen meist nicht. Verschärfend wirken hier „familienfremde“ Mitglieder, z. B. Ehefrauen, Ehemänner, … Sie kennen die Rituale nicht und wissen nicht um heiße Eisen.
Eine nicht offen angesprochene angespannte Situation kann entstehen. Oberflächliche Höflichkeit mit dem (unbewussten) Wunsch, es möglichst schnell hinter sich zu bringen, um wirklich schöne Weihnachten woanders zu feiern.
Weihnachten und die Justiz über die Geschenke
Dann kommt es zum unvermeidlichen Geschenkeauspacken. Die Erwartungen bewegen sich auf dem Höhepunkt. Hat der andere meinen Wink zum Geschenk verstanden (er war doch so klar)? Letztes Jahr habe ich doch deutlich gemacht (indirekt auf jeden Fall), was mir NICHT gefällt!
OK, ich habe mir nicht mit allen Geschenken viel Mühe gegeben. Am Ende fehlte mir die Zeit (und ehrlich gesagt die Lust). Und so ein Gutschein ist doch immer gut!
Tragisch wird der Erwartungspoker erst, wenn die Geschenke unter Aufsicht ausgepackt werden. Ab jetzt gilt es Gestik und Mimik bei sich selbst genau zu steuern und Gestik und Mimik bei anderen penibel zu beobachten. Nur keine Blöße zeigen, egal was kommt, ich freue mich wie ein Schneekönig.
Und wehe, wenn der andere mit seinem Geschenk nicht einverstanden ist. Bin ich Hellseher, ich habe mein Bestes gegeben. Natürlich sage ich öffentlich, dass jeder sagen kann, wenn ihm ein Geschenk nicht gefällt – doch wehe dem, der es wirklich zum Ausdruck bringt. So etwas Undankbares.
Weihnachten als Schauspiel
So spielen sich alle oft gegenseitig eine Seifenkomödie vor. Erst in vertrauter Runde offenbaren sich die Beschenkten. Beschweren sich über dieses billige Geschenk, über die Gedankenlosigkeit, die Unfähigkeit selbst klare Hinweise zu ignorieren. Hier wird abgerechnet und abgewertet. Ohne Gnade.
Doch zuvor setzt man sich nach der Bescherung zusammen und redet über alte Zeiten. Meist sehr alte Zeiten, weil es gemeinsame Erlebnisse (außer an Weihnachten) seit vielen Jahren nicht mehr git. Dieser Gesprächsstoff ist so zäh, weil er bereits seit Jahren herhalten muss. Jede Anekdote bereits zigfach erzählt. Die meisten quälen sich durch den Abend.
Irgendwann ist der Höfflichkeit genug Ehre getan. Noch ein paar Abschlusslügen („dieses Jahr war es wie immer richtig schön bei euch“, „Danke für das tolle Geschenk, habe ich mir seit vielen Jahren gewünscht“ …) und Türe zu. Geschafft.
Die Maske kann langsam abgelegt werden. Wenigstens gibt es jetzt wieder genügend Lästerstoff für private Runden und die Klage über das familiäre Weihnachtsfest. Motto: „Ich armes Opfer musste das den halben Tag ertragen, könnt ihr euch das vorstellen.“
Weihnachten bringt uns näher?
Manche sicherlich, doch die wenigsten. Die Wärme und Herzlichkeit ist oft aufgesetzt, weil eben Weihnachten ist. Wer wirklich warm und herzlich ist, der braucht dazu kein Weihnachten. Der zeigt es lieber die anderen Tage im Jahr.
An einem Tag (oder zwei Tagen) im Jahr kann nicht nachgeholt werden, was den Rest des Jahres versäumt wurde. Wachstum in Beziehungen braucht Dauer und Regelmäßigkeit.
Ein positiver Abschluss?
Weihnachten kann zeitweise zu wunderbaren führen. Gemeinsames Singen in der Einkaufsmall. Mitten im Mai würden dich die Menschen schräg anschauen, doch freue dich, jetzt, kurz vor Weihnachten darfst du es. Wir leben in einer Kultur, in der öffentliches Singen nur noch selten geduldet wird. Oder singe doch mal in der S-Bahn, in der Fußgängerzone, aus deinem Fenster in der Wohnung!!
Abschlussfrage
Welche bedeutet dir Weihnachten? Wie lebst du es (vor)?