Kennst du das Sprichwort: »Wer fragt, der führt.«? Das bedeutet nicht, dass immer der Fragende führt. Wie Willy Brandt 1972 eindrucksvoll in einem Interview belegt. Wohin führen Fragen eigentlich? Selbst wenn einer die Fragen bestimmen kann, bestimmt er damit ›wirklich‹, ob die Befragten sich von ihm führen lassen?
Die meisten Fragen sind keine wirklichen Fragen. Eine wirkliche Frage setzt voraus, dass der Fragende die Antwort nicht kennt. Doch oft fragen wir etwas, dessen Antwort wir schon kennen. Dies fängt bei den Kindern an, die wir durch diese Art Fragen („Meinst du nicht auch, dass du von dem Kuchen den Anderen was abgeben solltest?“) zu führen wollen. Bei Mitarbeitern ist diese Frageart auch beliebt („Glauben Sie, dass sich diese Investition in zwei Jahren rechnet?“).
Johannes Schopp treffend:
»Der Sinn einer Frage liegt darin, dass keine Antwort parat liegt, sonst wäre die Frage eine verkappte Antwort.«
Durch solche Fragen führst du den Befragten durch ›deinen‹ Denkkorridor. Nun liegt es an der Machtverteilung. Bei Eltern-Kind, Vorgesetzter-Mitarbeiter oder Lehrer-Schüler lässt sich der befragte ›führen‹. Wenn der Geführte erkennt, dass soziale Anpassung von Vorteil ist, ›folgt‹ er ›scheinbar‹ seinem Frager durch dessen Denkkorridor. Dabei verliert der Gefragte seine Selbstachtung, seine Fähigkeit selbst zu denken. Der Fragende verliert die Energie des Befragten und vergibt die Chance gemeinsam zu denken.
Nichts Neues, im Dàodéjīng von Lǎozǐ vor über 2.500 Jahren:
»Stärke unterwirft, Macht bringt zum Schweigen, Kraft erobert, doch Menschen lassen sich nur überwinden, indem man sie sich selbst finden läßt. Je mehr Vorschriften es gibt, um so größer ist der Widerstand. Je einleuchtender die Regeln, um so glänzender die Niederlage. Je mehr Kontrolle, um so merkwürdiger sind die Dinge, die geschehen. Wenn Unnötiges auferlegt wird, lernen Menschen törichte Dinge; das, was wichtig ist, geht im allgemeinen Kämpfen unter.«
Gerade die ›Wissenden‹ können großes Unheil – nach beiden Seiten anrichten:
»Ein törichter Lehrer erniedrigt die Unwissenden, bis sie verstummen und sich geschlagen geben, und er rühmt die Wissenden, bis sie eingebildet und selbstgefällig sind.«
Was ist die Alternative?
»Menschen mit Ideen angefüllt werden, so entsteht dadurch noch kein Verstehen; wenn man das Denken fördert, so entsteht dadurch noch keine Weisheit. Im Denken ist die Auflösung des Denkens bereits angelegt. Es ist verfehlt zu glauben, daß Lernen stets von Vorteil ist. Manche Menschen lernen mehr und erzeugen dadurch lediglich mehr Probleme; da sie dann weniger unwissend sind, ist ihre Torheit um so schwerwiegender. Deshalb lehrt der Weise diskret.«
Diskret lehren. Das setzt innere Leere voraus. Es braucht die Annahme, dass der Befragte eine eigene Meinung hat, haben darf und diese für den gemeinsamen Weg wichtig ist. Diese Leere kennt keine Hierarchie, bei der ein Mensch kraft seiner ihm verliehenen Macht (Lehrer, Vorgesetzter, …) der Wissende wird. Eine offene, ehrlich gemeinte Frage, die dem Befragten Raum für eigene Gedanken lässt. Eine Frage, die Wertschätzung und Respekt signalisiert. Der Volksmund nennt es ›jemanden ernst nehmen‹.
Wenn du Lehrer, Vorgesetzter oder Mama/Papa bist, nimmst du den Anderen mit deiner Frage ›ernst‹?
Bei unklarer oder gleicher Machtverteilung verbarrikadieren sich viele hinter ihren Positionen. Nicht nachgeben, sondern die gleichen Argumente wiederholen, leicht variieren und wiederholen. Keiner hört richtig zu, jeder versucht seine Stellung zu halten. Fragen sind Verteidigungsmauern und Angriffsmunition. Im Anschluss werfen wir dem Gesprächspartner vor, dass er auf seiner Meinung beharrte.
Es ist paradox. Du versuchst dein Ziel zu erreichen, in dem du mit immer mehr Energie in deine Richtung rennst – und den Anderen damit versuchst mitzuziehen. Der tut jedoch genau das Gleiche – so wendet ihr viel Energie auf, um euch gegenseitig zu blockieren. Je schneller du dein Ziel erreichen willst, desto länger brauchst du dafür. Paradox.
Eines der Probleme ist, dass wir die Dinge zu schnell wollen. Wir gehen – insgeheim – davon aus, dass die anderen Menschen in Wirklichkeit ›Maschinen‹ sind. Drücken wir die richtigen Knöpfe, kommt unten das gewünschte Ergebnis raus. Also suchen wir die Knöpfe. Drücken diese, die Maschine tut, rattert und quietscht – doch das Ergebnis stimmt nicht. Nun wundern wir uns. Ist die Maschine kaputt? Gestern hat es doch noch funktioniert? Brauchen wir eine andere Maschine? Haben wir die falschen Knöpfe gedrückt?
Menschen sind keine Maschinen. Menschen brauchen Zeit. Zeit, die über das funktionale erfüllen von Aufgaben hinaus geht.
Ein schönes Bild hierzu:
»Obgleich sie kurz sind, kann man die Beine der Ente nicht strecken, ohne dass die Ente leidet; ebenso wenig kann man die langen Beine des Kranichs verkürzen, ohne dem Kranich Schmerzen zuzufügen. So darf alles, was von Natur lang ist, nicht verkürzt und alles, was kurz ist, nicht gestreckt werden. Auch sonst sollte alles Schmerzhafte vermieden werden.«
Aus westlicher Sicht Rainer Maria Rilke:
»Man muss den Dingen die eigene, stille ungestörte Entwicklung lassen, die tief von innen kommt und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann, alles ist austragen – und dann gebären…
Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht, ohne Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte.
Er kommt doch!
Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so sorglos, still und weit…
Man muss Geduld haben mit dem Ungelösten im Herzen, und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben, wie verschlossene Stuben, und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.
Es handelt sich darum, alles zu leben. Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein.«
Geduld, geduldig sein. Wie viele Projekte wurden schnell-schnell in den Sand gesetzt? Wie laut wurde bei der Entscheidung darauf hingewiesen, dass ›man‹ keine Zeit verlieren dürfe? Einem Schüler, Mitarbeiter, Kind durch geschicktes Fragen das eigene Denken abzunehmen führt vielleicht dazu, dass die eigenen Ziele kurzfristig erreicht werden. Mittel- bis langfristig schwächen sie die Beziehung nachhaltig und verringern das gemeinsame Potential.
»Kleine Siege erringst du durch Macht, größere durch Liebe, die größten durch Respekt und Geduld.«
Wahrhafte Fragen stellen, die Antwort nicht kennen, Wertschätzung und Respekt zeigen, Zeit geben. Allgemeinplätze? Selbstverständlichkeiten? Nichts Neues? Dann lebst du es bestimmt schon. Oder?