Frage Menschen, was ihnen fehlt, damit sie glücklich sein könnten, so erhältst du reichlich Antworten. Meist folgt eine lange Liste von Dingen und Menschen, die nicht der eigenen Erwartung entsprechen. Der Fokus liegt auf den empfundenen Mangel. Übersiehst du, was im Überfluss dein Leben begleitet? Und verleiht nicht erst der Mangel deinem Leben Tiefe?
Quintessenz
- Glück und Unglück sind keine Ereignisse, die von außen auf dich treffen, sie entstehen durch deine Reaktion auf Ereignisse
- Glück und Unglück geben dem Leben Tiefe und Kontrast, sie helfen dir dich selbst zu erkennen, am Leben zu lernen und zu wachsen
- du kannst die Ereignisse nicht verändern, doch du kannst die Zukunft auf Basis dieser Ereignisse gestalten
- für ein wirkliches Verständnis der Ereignisse darfst du nicht am Offensichtlichen stehen bleiben, gehe zu den Wurzeln
Das Leben erfüllt keine Erwartungen
Manche glauben, dass das Glück oder Unglück etwas sei, was von außen auf sie einwirkt. Für diese Menschen kommt das Glück oder Unglück durch andere Menschen, Emails, Briefe, Erlebnisse. Sie sehen keine Chance, diesem Schicksal zu entkommen. Letzten Endes schreiben sie es dem großen „Leben“ zu, dass sie das Schicksal trifft. Das Leben hat ihre Erwartungen nicht erfüllt.
Diese Menschen stempeln sich zum Opfer ihrer Umwelt. Sie geben die Verantwortung für ihre Reaktion und für ihr Leben ab. Damit leben sie erstaunlich gut. Anderen sein Leid klagen, gehört zu unserer Kultur. Zuhören Pflicht. Gratis gibt es Mit-leid, die Anteilnahme der Gesprächspartner. Zum Abschluss die Bestätigung, wie schwer das Leben einen beutelt und viel Bewunderung, dass dieses Lebensschicksal trotzdem mit viel Würde ertragen wird.
Das Leben bedeutet Vielfalt
Die unangenehme Alternative wäre sich einzugestehen, dass die Ereignisse des Lebens vielfältig und kaum planbar eintreten. Sie sind weder Glück noch Unglück, sondern Fragen des Lebens an dich. Erst deine Antwort auf diese Vielfalt des Lebens entscheidet über Glück und Unglück.
»Ein chinesischer Bauer hatte ein altes Pferd für die Feldarbeit. Eines Tages lief ihm dieses in die Hügel davon. Die Nachbarn wollten ihn über dieses Unglück hinwegtrösten. Er aber sagte: „Ist’s ein Glück, ist’s ein Unglück? Wer weiss es?“ Nach ein paar Wochen kam das durchgebrannte Pferd mit drei wilden Pferden zurück. Jetzt liefen die Nachbarn zusammen und riefen: „Du bist doch ein Glückspilz.“ Der Bauer aber sagte: „Ist’s ein Glück, ist’s ein Unglück? Wer weiss es?“ Etwas später geschah es, dass sein Sohn, als er eines der wilden Pferde zähmen wollte, zu Boden fiel und sich das Bein brach. Die Nachbarn kamen erneut zusammen und meinten den Bauern trösten zu müssen über diesen Unfall. Doch der Bauer sagte wiederum: „Ist’s ein Glück, ist’s ein Unglück? Wer weiss es?“ Bald danach wurde das Land in einen Krieg verwickelt und alle jungen Männer wurden zu den Waffen gerufen. Nur der Sohn des Bauern konnte daheim bleiben. War’s ein Glück, war’s ein Unglück? Wer weiss es?«
Pflegst du deinen Erfahrungs-Schatz
Die Vielfalt des Lebens bedeutet Reichtum an Erfahrungen. Sie erschaffen einen eigenen Erfahrungs-Schatz. Wilhelm Schmid bezeichnet dies als ›Glück der Fülle‹. Bei von dir positiv bewerteten Ereignissen fällt es dir leicht, dieses Glück der Fülle zu erkennen. Sie sollen niemals enden (was jeden Himmel in eine Hölle verwandelt).
Doch sobald du Ereignisse negativ bewertest, was passiert dann?
»Von Vorteil ist, wenn in Gedanken die Gegensätze, Widersprüche und Widrigkeiten des Lebens als Elemente eines Glücks der Fülle betrachtet werden können. Das wird erleichtert von der Auffassung, dass schwierige Situationen zum Leben gehören und dass es möglich ist, sich in ihnen zu behaupten. Es wird erschwert vom Versuch, dem Leben einen Sinn zu geben, den es nicht erfüllen kann, beispielsweise immer nur positive Erfahrungen bereitzuhalten. Die Polarität des Lebens als Gegebenheit zu akzeptieren, liegt Kindern ohnehin nahe, nur bei Erwachsenen wird eine Frage der bewussten Haltung daraus, um außer Freuden auch Belastungen, außer Erfolgen auch Misserfolge, außer dem angenehmen Wohlgefühl auch ein Unwohlsein, außer Lüsten auch Schmerzen, außer der Oberfläche auch Abtrünnigkeit besser verkraften zu können.«
Wilhelm Schmid
Zugegeben, es lässt sich im ersten Augenblick leichter akzeptieren, wenn du auf der Sonnenseite dieser Fülle stehst. Doch ein Leben voller Sonne – ohne Schatten, ohne Regen, ohne Wolken und ohne die Nacht – wäre nicht lebenswert, lebensfähig. Erst durch das Wechselspiel des Seins erfahren wir den Reichtum in uns selbst. Dieses Wechselspiel erzeugt die Tiefe in deinem Leben, der Kontrast deines Seins, es hilft dir, zu lernen und zu wachsen.
Gestalte dein Leben selbst
Vergangene Ereignisse kannst du nicht verändern. Nein, es hilft nicht, sich mit ihnen gedanklich fortwährend zu beschäftigen, Wenn-Dann-Fragen zu wälzen, zu hadern oder zu verdammen. Was war, bleibt.
Doch du kannst die Gegenwart gestalten, nicht trotz des Ereignisses, sondern gerade wegen des Ereignisses. Denn das Ereignis veränderte dich, du bist nicht mehr der oder die von vor dem Ereignis. Und diese Veränderung ist Teil deines Lebens, Teil deiner Identität.
Mit dieser Erfahrung kannst du in der Gegenwart deine Zukunft gestalten. Du kannst andere Prioritäten leben, unbekannte Wege gehen, Dinge oder Menschen meiden, neue Kontakte aufbauen … Nicht mit dem Vorsatz es jetzt nie wieder „falsch“ zu machen, sondern in der Erkenntnis es wieder nach besten Wissen und Gewissen zu tun. Bereit für die Vielfalt des Lebens. Neugierig, deinen Erfahrungs-Schatz zu erweitern.
Bewerte nicht alles positiv
Das bedeutet nicht, dass jedes Ereignis der Vergangenheit positiv zu bewerten. Nein. Es gibt Ereignisse, die schmerzen, die verletzen, die quälen. Solche Ereignisse sind Teil eines jeden Lebens. Es bedeutet ebenfalls nicht, dass du solche Ereignisse suchen sollst. Sondern das du dir bewusst bist, wie du in der Gegenwart mit solchen Ereignissen umgehen möchtest.
Verständnis für die Vielfalt
Begegnest du der Vielfalt des Lebens, sind Urteile und Verurteilungen schnell gedacht, schnell ausgesprochen. Kaum erlebst du etwas, schon öffnest du deine Schubladen, steckst Menschen und Dinge hinein.
»Zwei Engel haben ihre Reise unterbrochen und bei einer reichen Familie übernachtet. Die Familie war unhöflich und erlaubte nicht, dass die Engel im Gästezimmer der Villa übernachteten. Statt dessen haben sie den Engeln einen kleinen Platz in einem kalten Keller gegeben. Als sie ihr Bett auf dem harten Boden einrichteten, sah der ältere Engel ein Loch in der Wand und reparierte es. Auf die Frage des jüngeren Engels, warum er dies getan hat, antwortete er: „Die Dinge sind nicht immer so, wie sie aussehen.
Am nächsten Tag haben die zwei bei einem sehr armen und gastfreundlichen Bauern und seiner Frau übernachtet. Das Ehepaar teilte sein bescheidenes Abendmahl mit den Engeln, und nachher überließ es ihnen sein eigenes Bett, damit sie sich gut ausruhen konnten. Beim Sonnenaufgang am nächsten Tag weinte das Ehepaar bitterlich. Ihre einzige Kuh, deren Milch das ganze Einkommen darstellte, lag tot auf dem Feld.
Unbekannt
Der jüngere Engel war außer sich vor Wut und fragte den älteren, wie er so etwas hätte geschehen lassen können. „Der erste Mann hat alles gehabt und trotzdem hast Du ihm geholfen. Die zweite Familie hat nur sehr wenig gehabt, war aber bereit, mit uns alles zu teilen, und Du hast die Kuh sterben lassen?“. „Die Dinge sind nicht immer so wie sie aussehen“ gab der ältere Engel zur Antwort. „Als wir im Keller der Villa übernachtet haben, merkte ich, dass in dem Loch in der Wand Gold versteckt war. Weil der Besitzer des Hauses von seiner Gier so besessen war und sein Glück nicht teilen wollte, habe ich die Wand zugemacht, damit er das Gold nicht findet.“ Gestern Abend, als wir im Bett des Bauers geschlafen haben, ist der Tod gekommen, um die Frau des Bauern zu holen. Ich habe ihm statt der Frau die Kuh gegeben. Die Dinge sind nicht immer so wie sie aussehen.«
Du lässt dich von dem Oberflächlichen, dem Offensichtlichen, dem Augenscheinlichen blenden. Statt abzuwarten, vorurteilsfrei zu fragen, definierst du gut und böse. Wenn dir die Vielfalt des Lebens begegnet, lasse dir Zeit. Bleibe nicht an der Oberfläche, lerne vorurteilsfrei zu fragen. Interessiere dich für das Warum.
Unterscheide den Zweig von der Wurzel
Lerne den Zweig (das Augenscheinliche) von der Wurzel (der Ursache) zu unterscheiden.
»Die Unterscheidung zwischen dem was erscheint und dem was die Erscheinung bewirkt, nennt man Wurzel und Zweig. Es ist die Entwicklungen im Laufe der Zeit. Deshalb ist alles, was wir erkennen und sehen immer nur Zweig. Der Grund oder die Wurzel für diese Erscheinung liegt zurück und ist uns deshalb oft verborgenen, so wie die Wurzeln eines Baumes unter der Erde unserem Blick verborgen sind. Ein jeder weiß, je tiefer und fester diese Wurzeln sind, je älter ist die Entwicklung. Das Gesetz von der Wurzel und dem Zweig bedeutet auch: es gibt nur gewachsene Verbindungen. Alles ist Entwicklung, alles befindet sich im Prozess. In dieser andauernden zeitlichen Entwicklung, wird die Gegenwart Vergangenheit; jenes was eben noch im Licht war, ist später in der Dunkelheit.«
Ulla Blum
Zu den Wurzeln gelangst du, indem du
- die Verbindungen erkennst,
- die Geschichten erfährst,
- die Abhängigkeiten erkundest,
- die Alternativen verstehst und
- deine Bewertungen zurückstellst.
Deshalb, schaue nicht nur auf die Handlungen oder Aussagen (Zweige) eines Menschen, schaue auf sein Leben, seine Erfahrungen, seine Geschichten (Wurzeln).
Pflege deine Wurzeln
Wurzeln entstehen nicht nur in der Kindheit, sie entstehen jeden Tag. Deine Wurzeln zu pflegen, bedeutet heute Erfahrungen zu machen, die später als Wurzeln einen guten Halt verleihen. Und du kannst andere unterstützen, ihre Wurzeln zu pflegen.
Du könntest anderen einen Gefallen tun. Statt daraus ein Tauschgeschäft zu machen („jetzt schuldest du mir einen Gefallen“), könntest du den anderen bitten, seinerseits jemanden einen Gefallen zu tun (ohne Gegenleistung). Damit stößt du eine wundervolle Kette an, von der viele Menschen angestoßen werden.
Du könntest deinen Mitmenschen ein Lächeln schenken. Sie ermutigen, neue Dinge zu wagen. Zu aller erst könntest du dir ein Lächeln schenken und dich selbst ermutigen, neue Dinge zu wagen.
Falls dir das alles zu wenig wissenschaftlich ist, hier eine Langzeitstudie aus Harvard. 75 Jahre das Leben von Menschen untersucht, was macht glücklich. Robert Waldinger stellt die Ergebnisse vor.
Abschlussfrage
Bist du Opfer der Vielfalt des Lebens oder gestaltest du auf Basis der Vielfalt des Lebens dein Leben selbst?