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Spiegelt dein Leben dein Reden?

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen [A482] (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte, dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab.“
Aus: Emanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung; Berlinische Monatsschrift. Dezember-Heft 1784. S. 481-494

Schade und bedauerlich, dass dies schon 1784 geschrieben wurde. Es passt so wundervoll (das mit dem schönen Geschlecht ist glücklicher Weise heute nicht mehr so) auch in unsere Zeit.

Wir sind ein wissenschaftliches, aufgeklärtes, intellektuelles Volk, das so viele neue Informationen jeden Tag generiert und dennoch unmündig, vielleicht sogar selbst verschuldet? Nun, das liegt in der Wahrheit des Betrachters. Versuchen wir es näher zu betrachten:

Können wir unseren Verstand ohne Leitung anderer bedienen? Hier ein paar Fragen:

  • Ob ich viele Freunde habe, sagt uns Facebook.
  • Ob sich andere für mich interessieren, sagt uns Twitter.
  • Ob etwas seinen Preis wert ist, sagt uns günstiger.de.
  • Ob ich etwas mag, sagen mir die Likes unter einem Beitrag.
  • Ob etwas gesund für mich ist, sagen mir die Foren im Internet.
  • Ob mein Leben aufregend ist, sagen wir die Bilder/Videos, die von anderen angeschaut werden.

Lassen wir das Internet aussen vor, nehmen wir die materielle Welt:

Warum kaufen wir Äpfel aus Neuseeland?
Warum essen wir Rinder aus Argentinien?
Warum trinken wir Wasser aus Italien, Frankreich oder der Türkei?
Warum produzieren wir Lebensmittel, die Sachen enthalten die Krank machen?

Unsere Gesellschaft verbraucht nicht erneuerbare Energien nach dem Motto: Es gibt genug für mein Lebenszeit, was andere tun ist deren Problem! Mit ein wenig Hoffnung können wir auch sagen: Es gibt genug für meine Lebenszeit, was andere tun hängt von der Wissenschaft ab – und die findet schon eine Lösung.

Wir produzieren Energie mit Atom, deren Abfallprodukte 25.000 Jahre brauchen, bis sich die Strahl halbiert hat.
Wir nehmen diese Energie für Heizstrahler in kühlen Sommernächten.
Wir nehmen diese Energie, damit sich unsere Rollläden auf Knopfdruck bewegen.
Wir nehmen diese Energie, damit wir unsere Elektrogeräte mit der Fernbedienung auf Stand by schalten können.

Das alles kennen wir, ist uns nicht neu. Wir reden schon lange darüber, zu lange. Doch ändern wir etwas?

Plutarch sagte vor 2000 Jahren:
„Der richtige Spiegel unserer Reden ist unser Leben.“

Worüber redest du – und was lebst du?