Sei authentisch! In unserer Zeit eine populäre Aufforderung, geradezu Verpflichtung. Doch wer sagt dir was authentisch bedeutet? Bestimmen die Anderen, wie du authentisch zu sein hast? Oder weißt du selbst, wann du authentisch bist? Falls du es selbst weißt, wie reagieren die Anderen auf dein authentisch sein?
Quintessenz
- wichtige Frage: Wer will ich für mich, wer für andere sein?
- Individualität ist in unserer Kultur oft eine Illusion
- unsere Gesellschaft definiert deinen Marktwert
- selbst denken ver-stört andere
- dich selbst erkennen und annehmen, klärt dein Sein
- höre auf von anderen abhängig zu sein
- Wer bist du und warum bist du hier?
Was dahinter steckt
Der abstrakte Begriff ›Authentisch sein‹ steht in Beziehung zu:
- Freiheit, als die Möglichkeiten dich zu entfalten, unabhängig von den Erwartungen des Umfelds.
- Selbstbestimmung, als die Entscheidung eines Menschen ›seinen‹ Weg zu gehen. Dazu gehört das Recht auf Fehler, das Recht andere zu ent-täuschen, das Recht auf ungeliebte Entscheidungen.
- Identität, als ein Prozess der Menschwerdung, der niemals abgeschlossen ist und trotz ständigem Wandel dem Menschen Orientierung und Halt gibt.
- Glaubwürdigkeit, als die Gewissheit, stimmig zu sein, in dem was du denkst, sagst und tust (eigene Glaubwürdigkeit). Andere sprechen dir Glaubwürdigkeit zu oder ab, je nach dem, ob du gemäß ›ihres Bildes von dir‹ sprichst und handelst (fremde Glaubwürdigkeit).
- Soziales Umfeld, als die Summe aller Menschen, Lebewesen, Dingen mit denen du in Kontakt ist. Das soziale Umfeld hat Erwartungen an das Denken, Sagen und Tun seiner Mitglieder. Es gibt Stabilität und Sicherheit, engt den Handlungsspielraum ein und fordert Anpassungsleistungen.
- Autorität, als der Einsatz von Macht auf einen Menschen, um diesen in seinem Sein zu beeinflussen. Autorität darf nicht in Frage gestellt werden. Weicht das Verhalten von den Erwartungen der Autorität ab, wird der Missetäter direkt oder indirekt sanktioniert.
Zwei Fragen weisen den Weg
In dem Beziehungsgeflecht zwischen ›Ich‹ und ›Wir‹ entsteht Authentizität. Auf den Punkt gebracht ist Authentizität das Ergebnis im Spannungsfeld von zwei Fragen: »Wer will ich für mich sein?« und »Wer will ich in den Augen anderer sein?«
Erich Fromm schreibt in ‚Authentisch leben‘:
«Er denkt, fühlt und will, was die anderen von ihm erwarten, und verliert dabei sein Selbst, auf das sich jede echte Sicherheit eines freien Menschen gründen muss. Der Verlust des Selbst hat die Notwendigkeit, mit den anderen konform zu gehen, noch vergrößert, führt er doch zu einem tiefen Zweifeln an der eigenen Identität. Wenn ich nichts bin als das, was die anderen von mir erwarten, wer bin „ich“ dann? … Pirandello verleiht diesem Gefühl des modernen Menschen in seinen Theaterstücken Ausdruck. Er geht von der Frage aus: Wer bin ich? Welch’ anderen Beweis habe ich für meine Identität als den Fortbestand meines körperlichen Selbst? Seine Antwort ist nicht wie bei Descartes die Bejahung des persönlichen Selbst, sondern dessen Leugnung: Ich besitze keine Identität, es gibt kein Selbst außer dem Spiegelbild dessen, was andere von mir erwarten: Ich bin, „wie du mich haben willst“. Dieser Identitätsverlust macht es nur um so dringlicher, sich anzupassen; er bedeutet, dass man sich seiner selbst nur sicher sein kann, wenn man den Erwartungen der anderen entspricht. Entsprechen wir ihren Vorstellungen von uns nicht, so riskieren wir nicht nur ihre Mißbilligung, was zu einer noch stärkeren Isolierung führt, wir riskieren auch, die Identität unserer Persönlichkeit zu verlieren, womit wir unsere geistige Gesundheit aufs Spiel setzen.«
Fritz Simon führt zu der wunderbaren Frage: »Wer bin ich in den Augen derer, die mich beobachten, und stimmt das mit dem überein, was ich in der Selbstbeobachtung wahrnehme bzw. wahrnehmen will?« Er geht davon aus, dass Identität von Anderen gegeben wird. Identität als Deutungen von Anderen über mein Verhalten, mein Auftreten, meine Kleidung, meine Sprache. Identität als Ergebnis der Teilnahme an Kommunikationssystemen. (‚Gemeinsam sind wir blöd?!‘, S. 170 – 171)
In Japan gibt es einen Begriff dafür: Tatemae
Als Tatemae (建前, Maskerade) bezeichnen die Japaner das Verhalten und die Äußerungen in der Öffentlichkeit und entspricht den Erwartungen der Gesellschaft, der Position der Person und den Umständen. Es wird oft durch Lächeln oder eine bewusst ausdruckslose Mimik maskiert. Es begegnen sich Schauspieler und jeder ist bestrebt, der beste Schauspieler zu sein. Die Geisha ist wohl eine der bekanntesten Ausdrucksformen dafür. Dieses Verhalten sichert den Umgang miteinander, es stellt klare Regeln für den Umgang auf, was erlaubt ist, was nicht. Mir fällt es schwer, dass Tatemae gut zu finden, kann mir jedoch vorstellen, dass es für die beteiligten Akteure Vorteile haben mag.
Nur die eine Frage zu beachten ist eine Sackgasse
Du kannst dein Leben an den Erwartungen der Anderen ausrichten. Damit richten die Anderen über dein Denken, Sprechen und Handeln. Deine Fremd-Identität ist gesichert. Identität ist – in diesem Sinne – die Zuweisung deines Platzes, deiner Rolle im sozialen Feldes. Von dir wird erwartet, diese Rolle zu spielen. Deine Eigenschaften, deine Handlungen, dein Text wird von anderen vorgeben, du führst aus.
Du hast Zeit gewonnen, die du zur Selbstfindung gebraucht hättest. Du weißt, was du darfst, was du nicht darfst, du kannst dich einrichten. Und in kleinen Dingen darfst du dich ausleben. Am Frühstückstisch entscheidest du – selbstdenkend – zwischen Erdbeer- und Himbeermarmelade; beim nächsten Buchkauf zwischen dem Taschenbuch über Liebe oder dem Ratgeber über mehr Erfolg im Beruf.
Einmal auf dieses Rollenspiel eingelassen, ist der Weg in die eigene Identität schwer. Mit der Zeit dominiert das fremde Rollenbild deinen Selbstwert, dein Selbstbild. Erfüllst du die Rollenerwartungen nicht mehr – welches Selbstbild hast du, woher kommt dein Selbstwert?
Moshé Feldenkrais (‚Bewusstheit durch Bewegung‘, S. 40-41):
»Über dem – im großen und ganzen positiven – Bestreben, das Leben der Gesellschaft zu verbessern, werden in unserer Zeit die einzelnen Menschen, aus denen die Gesellschaft besteht, vergessen, vernachlässigt, übergangen. Der Fehler liegt nicht in den Bestrebungen, sondern im einzelnen selbst: er neigt dazu, sein Ich-Bild mit dem Wert gleichzusetzen, den er für die Gesellschaft hat. Wie einer sich einschätzt, ob richtig oder falsch, hängt zu Recht oder zu Unrecht für ihn ab von dem Wert, den er als Glied der Gesellschaft zu haben glaubt. Mag er sich auch von seinen Erziehern und Beschützern befreit haben, so läßt er sich doch nicht anders werden als nach dem Muster, das ihm von Anfang an vorgehalten und eingeprägt worden, und er wird sich erst recht nicht bemühen, der andere zu werden, der er ist. Darum nimmt in einer Gesellschaft die Ähnlichkeit im Verhalten, im Aussehen, in den Ansichten derer, aus denen sie sich zusammensetzt immer mehr zu.«
Bist du Pseudo-Individuell?
1978 eine schöne Beschreibung unserer heutigen Gesellschaft. Treffend in Bilder umgesetzt von Ari Versluis und Ellie Uyttenbroek (mehr Bilder auf deren Homepage).
Ähnlichkeit ist die Folge, Gleichschaltung – unter Vorspiegelung von scheinbarer Einzigartigkeit – eine weitere Konsequenz. Jeder auf diesem Bild glaubt an seinen individuellen Kleidungsstil. Ich nenne dies Pseudo-Individualität.
»Unsere Träume sind standardisiert, unsere Vorstellungen sind industrialisiert, unsere Phantasie ist programmiert. Wir können uns nur noch an die Logik der Massenproduktion angepaßte, sozialisierte Gewohnheiten vorstellen. Wir haben die Kraft verloren, uns selbst auszusagen – wir sind dem Slogan verfallen.«
Dein Marktwert definiert dich?
Die Gleichschaltung vereinfacht die Wertbestimmung von Menschen. Marktwirtschaftlicher Wert von Menschen messen wir an der …
- freiwillige Bereitstellung der aktuell geforderten Qualifikationen, Anforderungen des Marktes (z. B. Mobilität, Methoden, Gehorsam),
- Förderung des Konsums durch die Befriedigung der durch Werbung injizierten Bedürfnisse im Kaufakt,
- dogmatischer Glaube an die Allmacht von Geld und Technologie.
Ständig erhöhst du deinen Marktwert. Die Angst dich optimal zu vermarkten treibt dich an, quält dich Tag für Tag (und Nachts). Dein Pseudo-Selbstwertgefühl ist vorhanden, wenn andere Menschen dein Mühen anerkennen und du ein gefragter Qualifikationsträger bist. In Wahrheit ist dies kein Selbstwertgefühl, sondern ein gefühlter Fremdwert.
Ständig versuchst du durch Konsum die innere Leere zu übermalen. Der Lack blättert kurz nach dem Kaufakt – die Leere kommt zurück. Die Leere wird mit jedem Kaufakt größer.
Glaubst Du wirklich an den Weihnachtsmann?
Du glaubst, dass die zukünftigen Generationen die von uns verursachten Probleme (Ressourcenverbrauch, Wasserverfügbarkeit und Wasserqualität, Atommüll, …) durch den Einsatz von Technologie und Geld lösen wird (glaube an den guten Weihnachtsmann).
Eine der Höchststrafen in dieser Kultur ist die Arbeitslosigkeit, keiner will deine Qualifikation haben. Du bekommst ausgesprochen oder unausgesprochen das Etikett wertlos, ohne Wert für unsere Marktwirtschaft. Du bist ein schlechter Konsument, bist ein Kostenfaktor. Damit ist deine Identität geklärt.
›Selbst denkend‹ deine Identität festzulegen, ist dies der anstrengendere Weg. Ein Weg mit großem Widerstand. Selbst denken ist nur solange erlaubt, wie du in den Bahnen der Vordenker bleibst. Solange du das wiederkäust, was andere bereits gedacht haben, ist alles gut.
Was kannst du tun, um authentisch zu sein? Den Weg weist Konfuzius:
»Der edle Mensch findet Freude in sich selbst, während der gemeine sich nur freut, wenn er von anderen anerkannt wird.«
Erkenne dich selbst
Der erste Schritt authentisch zu sein, ist sich selbst zu erkunden, sich selbst zu erkennen. Die Griechen nannten es ›Gnothi seauton‹. Bezeichnender Weise steht es über den Apollotempel von Delphi, auf dem Weg zum Orakel von Delphi.
Ray Grieg (‚Das Tao des Seins‘, S. 59) bemerkt:
»Wenn nicht einmal die Tiefen des Selbst verstanden werden können, wie soll dann irgend etwas anderes verstanden werden?«
Anders gesagt, wer sich seine Identität von Anderen vorschreiben lässt, hat keine eigene Meinung.
Ein Teil des Erkenntnisprozesses ist der ständige Wandel des Selbst. Wenn du dich erkannt zu glauben scheinst, hat dich diese Erkenntnis schon verändert. Du erkennst, dass es dich als festgelegte Identität nicht gibt. Alles fließt: ›Panda rhei‹.
Einen Ausweg aus diesem Fluß des Lebens bietet Benedictus de Spinoza:
»Sein, was wir sind, und werden, was wir werden können, das ist das Ziel des Lebens.«
Das Geheimnis deines Lebens
Nicht zu fragen „Wer bin ich?“, sondern anzuerkennen wer du bist, dies anzunehmen und dein Handeln an dem orientieren, was du gerne sein möchtest. Fasse dies nicht als ein Problem oder eine Aufgabe auf, sondern als das Geheimnis deines Lebens, als spielerische Erkundung deiner Möglichkeiten (nach Gabriel Marcel: »Das Leben ist ein Geheimnis, das gelebt und nicht ein Problem, das gelöst werden muss.«).
In diesem Lebensspiel der Möglichkeiten, erkennst du vielleicht, dass dein soziales Umfeld nicht zu dem passt, was du bist und was du sein möchtest. Die Beziehungen und Begegnungen in deinem Leben passen nicht mehr zu dir. Indem du dich veränderst, werden sich deine Begegnungen und deine Beziehungen verändern. Mit Mut zum Risiko erkundest du unbekannte Wege, lernst neue Menschen kennen – entdeckst dich neu.
Gewinne Unabhängigkeit
Du schenkst dir Anerkennung für deinen Mut, für deinen Weg, für dein Sein. Du lebst aus der Überzeugung heraus, du selbst zu sein, mit all deinen Fehlern, mit all deinen Irrtümern, mit all deinen Unglücksmomenten und mit allem, was du bist. Wenn du dich selbst anerkennst, wirst du unabhängiger von der Anerkennung durch andere (Menschen, Dingen, Konsum).
Du bist authentisch, du handelst aus deinem sich ständig wandelnden Wesenskern heraus. Wie dein soziales Umfeld reagiert, nimmst du wahr. Aber dein Selbstwert ist von dieser Reaktion nicht abhängig .
Abschlussfragen
Wie sorgst du für deine Bedürfnisse – und hast dein soziales Umfeld dabei im Blick? Neal Donald Walsch fragt: Wer bin ich und warum bin ich hier?