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Gibst du den Dingen ihre Zeit?

In Gedanken bin ich manchmal nicht im Augenblick, sondern in der Vergangenheit oder schon in der Zukunft. Ich wünsche mir manche Dinge herbei, die nicht waren und manche Dinge anders als das sie gewesen sind. Manchmal wünsche ich mir, dass etwas länger dauert und manchmal soll etwas schneller vorbei sein. Und es gibt Zustände, die ich am liebsten gar nicht erleben möchte, sowie Zustände, die ich sehr gerne immer wieder erlebe.

Alles menschlich. Und doch lenkt es meine Achtsamkeit vom Augenblick ab. Es raubt mir die Schönheit des Moments. Diesen Moment anzunehmen, ohne Erwartungen, ohne Bewertungen, das ist meine große Aufgabe. Das Motto lautet: Alles hat seine Zeit!

»Alles hat seine Zeit.
Für jedes Geschehen unter dem Himmel
gibt es eine bestimmte Zeit:
eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben,
eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Ernten,
eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen,
eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz;
eine Zeit zum Umarmen und eine Zeit die Umarmung zu lösen,
eine Zeit zum Suchen und eine Zeit zum Verlieren,
eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden …«

Buch Kohelet, 3. Kapitel

Wenn ich Dinge schneller tue, als es erforderlich wäre, so erlebe ich oft Unfälle, Missgeschicke. Ich räume schnell die Arbeitsfläche auf und schwups, fliegt etwas auf den Boden. Ich brauche länger, als wenn ich mir Zeit gelassen hätte. Ich gehe schnell noch einkaufen und merke dann, dass ich eine Einkaufstasche vergessen habe, weil ich es so eilig hatte. Vor einer Reise packe ich schnell noch den Koffer, um nach 5 Minuten im Auto festzustellen, dass etwas wichtiges fehlt.

»Obgleich sie kurz sind,
kann man die Beine der Ente nicht Strecken,
ohne dass die Ente leidet;
ebenso wenig kann man die lange Beine des Kranichs verkürzen,
ohne dem Kranich Schmerzen zuzufügen.

So darf alles, was von Natur aus lang ist,
nicht verkürzt und alles,
was kurz ist, nicht gestreckt werden.

Auch sonst sollte alles Schmerzhafte vermieden werden.«

Tschuang Tse

Wenn ich den Dingen nicht ihre Zeit gebe, so treten Konsequenzen ein, die mir deutlich machen, dass sie jetzt ihre Zeit brauchen. Je länger ich dies ignoriere, desto stärken werde ich dies erfahren.

Till Eulenspiegel hat es so erlebt:

»Als Till Eulenspiegel mit seinem Bündel Habseligkeiten zu Fuß zur nächsten Stadt wanderte, überholte ihn eine recht schnell fahrende Kutsche. Der Kutscher, der es sehr eilig zu haben schien, rief: „Wie weit ist es bis zur nächsten Stadt?“
„Wenn Ihr langsam fahrt, eine halbe Stunde – wenn Ihr schnell fahrt, einen halben Tag, mein Herr!“ antwortete Till Eulenspiegel.
„Du Narr!“ schimpfte der Kutscher, griff zur Peitsche und trieb die Pferde noch heftiger an, und die Kutsche fuhr mit erhöhtem Tempo weiter.
Till Eulenspiegel ging seines Weges daher. Die Straße hatte viele Schlaglöcher. Eine Stunde später fand er eine Kutsche, die offenbar mit einem Schaden im Straßengraben lag. Die Vorderachse war gebrochen und der Kutscher fluchend damit beschäftigt, diese zu reparieren.
Der Kutscher blickte Till Eulenspiegel vorwurfsvoll an, worauf dieser nur anmerkte:  „Ich sagte Euch doch: Wenn Ihr langsam fahrt, eine halbe Stunde …“«

Lothar Seiwert, ‚Wenn Du es eilig hast, gehe langsam‘

Gibt jedem Ding seine Zeit. Hektisch durch’s Leben zu gehen heißt, den Dingen nicht die Zeit zu geben. Doch die Dinge nehmen sich ihre Zeit. Ich will nur noch schnell ein Glas in die Spülmaschine stellen – und schwups, fällt es runter. Mit aufwischen, kehren … brauche ich viel länger, als dies in Ruhe zu tun. Wie viel kleinere und größere Unfälle passieren, weil wir schnell etwas tun wollen …?

Eugen Rucker hat dieses Thema so dargestellt.

»Ein Forschungsreisender unternahm einmal einen Gewaltmarsch durch den Urwald am oberen Amazonas. Zunächst kam die Expedition unerwartet schnell vorwärts. Am dritten Morgen aber blieben alle Einheimischen mit ernsten Mienen auf den Fersen sitzen und machten keine Anstalten aufzubrechen. Erstaunt fragte der Forscher, ob die Träger mehr Geld verlangten oder mit dem Essen nicht zufrieden seien. „O nein, mein Herr“, antwortete der Sprecher, „Wir können nicht weitergehen, weil unsere Seelen zurückgeblieben sind, und nun müssen wir warten, bis sie unsere Körper wieder eingeholt haben.«

Eugen Rucker

Auch wenn sich unsere Welt immer schneller dreht. Die Natur, der Mensch haben ihre eigene Geschwindigkeit. Noch gibt es keinen Menschen 2.0!